Fallbeispiel - Kieferchirurgie in der Praxis

Der bekannte Hochschullehrer William R. Proffit machte anlässlich seines Vortrags bei der Jahrestagung der DGKFO im Jahr 2002 mit folgendem Statement das Dilemma der Kieferorthopäden bei der Behandlung der Klasse III deutlich: „If you start too soon – it takes too long, if you start too late – it does not work!“

Klasse-III-Patienten sind anhand der klinischen Untersuchung der Okklusion meistens schon sehr frühzeitig und leicht zu erkennen: Im Milchgebiss oder im frühen Wechselgebiss besteht ein Kreuzbiss in der Front und zusätzlich können die Milchdreier und die Milchmolaren einseitig oder beidseitig im Kreuzbiss stehen. Es gibt Risikofaktoren wie familiäres Vorkommen, Aplasien im Oberkiefer, Zwangsbisse nach mesial und auch nach lateral mit fal-scher Orientierung der den Unterkiefer haltenden und bewegenden Muskulatur, falsche Zungenlage und gestörte Funktionen der oralen Muskulatur.
Im Zuge der Neuregelung der Zahnspangenversorgung wird nun anhand der objektiv messbaren okklusalen Kriterien definiert, dass hier eine Frühbehandlung sinnvoll ist, weil sie Vorteile gegenüber einem Behandlungsbeginn zu einem späteren Zeitpunkt bringt. Als Therapie dieser frühkindlichen Fehlstellungen ist eine interzeptive Behandlung vorgesehen. Eine interzeptive Behandlung ist in der Kieferorthopädie als kurzfristige, intensive, apparative Behandlung mit einem definierten Behandlungsziel innerhalb einer begrenzten Behandlungszeit von maximal einem Jahr definiert.
Diese frühe Klasse-III-Therapie soll die transversale und sagittale Diskrepanz zwischen Oberkiefer und Unterkiefer beseitigen und die skelettale Entwicklung des Gesichtes positiv beeinflussen.
Besteht Anspruch auf die neue Gratiszahnspange, dann ist ein Anspruch auf die „alte“ Zahnspange nicht mehr gegeben. Somit ist für Klasse-III-Patienten die funktionskieferorthopädische Behandlung, mit der die okklusalen Abweichungen sowie die Störungen der oralen Funktionen kontrolliert und therapiert werden, seither nicht mehr im Leistungskatalog der Krankenkassen. Warum das aus der Sicht des praktisch tätigen Kieferorthopäden bedauerlich ist, möchte ich anhand eines Fallbeispiels diskutieren.

Fallbeispiel

Mein fünf Jahre alter Patient befand sich im frühen Wechselgebiss. Der obere Zahnbogen war in Relation zum unteren Zahnbogen zu klein, es bestand ein frontaler Kreuzbiss und ein Zwangsbiss auf die rechte Seite. Auffallend waren die falsche Zungenlage in Ruhe sowie beim Sprechen und Schlucken.
Wir starteten, nachdem ich die Mutter über die Zielsetzung einer funktions-kieferorthopädischen Behandlung aufgeklärt hatte, mit einem modifizierten, elastisch-offenen Aktivator Klasse III nach Klammt. Es handelt sich hier um ein bimaxilläres Gerät, das das Kind in eine möglichst rückwärtige Unterkieferhaltung führt. Auf der lingualen Seite befinden sich Kunststoffpelotten, die von den unteren Frontzähnen abstehen. Dadurch wird eine tiefe anteriore Zungenposition verhindert. Die Zunge muss zum Gaumen ausweichen. Dadurch und mithilfe des Gaumenbügels, der den Zungenrücken stimuliert, wird eine physiologische Zungenhaltung provoziert.
Dieses Gerät sollte der Patient bis zu zwei Stunden täglich und nachts tragen. Nach zehn Monaten und fünf Kontrollordinationen, die der Adaptation des Gerätes und Verhaltensempfehlungen dienten, war die seitliche Abweichung des Unterkiefers nach rechts nicht mehr vorhanden. Wegen der noch immer geringen transversalen Weite im Oberkiefer und um zu verhindern, dass sich die Zunge während des Wechsels der Frontzähne interdental einlagert und den korrekten Durchbruch stört, ersetzte ich das Klasse-III-Gerät durch einen elastisch-offenen Aktivator mit Zungengitter nach Klammt. Mittlerweile war der Patient fünf Jahre und acht Monate alt – alt genug, um nun auch gleichzeitig eine logopädische Behandlung zu starten.
Die weiteren Kontrollen in der Ordination im Abstand von sechs bis acht Wochen zeigten eine weitgehend zufriedenstellende Entwicklung des Gebisses. Ein geringes Defizit in der transversalen Weite des oberen Zahnbogens wurde noch mit einer Oberkieferplatte korrigiert und retiniert.
Schließlich hatte die Funktionskieferorthopädie ihre Hauptaufgabe, die Prophylaxe, die Prävention von Schäden an Zähnen und Gebiss und die Lehre und Erziehung zur Mundgesundheit, erfüllt. Nach Durchbruch aller Zähne mit elf Jahren und sieben Monaten zeigt mein Patient eine gute, gesicherte Verzahnung. Die Multibracket-Behandlung zur Feineinstellung der Okklusion kann, falls gewünscht, nach Ende des Wachstums starten.
Der Fall soll zeigen, wie die Funktionskieferorthopädie mit ihren Geräten nach Klammt biologisch-formativ auf die Gestaltung der Kiefer, auf die Normalisierung der Bisslage und auf alle Funktionen des Mundraumes wirkt. Die Wirksamkeit ist für die Eltern und das Kind leicht verständlich. Die Handhabung ist einfach und das behandelte Kind wird nicht mehr als unvermeidlich belästigt. Zur Retention eignet sich häufig auch das letzte Gerät, das in vielen Fällen das einzige Behandlungsmittel ist.
Fehlt dieser wichtige Teil der Zahnheilkunde im Leistungskatalog der Kassen, wird er auch nicht mehr nachgefragt und in der Folge nicht mehr angeboten werden. Schließlich findet man die Lehre der Funktionskieferorthopädie auch nicht mehr in den zahnärztlichen Fortbildungsprogrammen. Eine Entwicklung, der die Verantwortlichen entgegenwirken sollten.

MR Dr. DORIS HABERLER
niedergelassene
Kieferorthopädin in Wien
office@dr-haberler.at



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