Fallbeispiel - Kieferorthopädie in der Praxis

In einer launigen Ansprache anlässlich des ersten internationalen kieferorthopädischen Symposions in Wien (IVOS) bezeichnete Prof. DDr. Georg Watzek die Kieferorthopäden als „Zahnschieber“. Im Lichte neuer Techniken, die gezielte Zahnbewegungen über weite Strecken im Bogen möglich machen, ist das ein treffender Name für unsere Tätigkeit.

Im Allgemeinen wissen Laien, dass Kieferorthopäden schiefe Zähne gerade drehen und vorstehende Zähne zurückkippen können. Skepsis beobachte ich manchmal, wenn es darum geht, Engstände durch Extraktion bleibender Zähne und anschließendem Lückenschluss aufzulösen. „Sie können die benachbarten Zähne wirklich in die Lücke schieben und diese vollständig schließen?“, werde ich dann von den zweifelnden Patienten gefragt. Es gibt aber auch die gut Informierten, die wissen, dass man darüber hinaus Zähne von ihrer ursprünglichen Position weit weg, entlang des Alveolarbogens, in angrenzende zahnlose Bereiche schieben kann. Eine solche kieferorthopädische Lösung wird häufig von Patienten, die eine Implantatversorgung ablehnen, nachgefragt. Sie fürchten den chirurgischen Eingriff, die erschwerte Hygienefähigkeit und chronische Entzündungen, eine begrenzte Haltbarkeit der technischen Arbeit und die oft wenig zufriedenstellende Rot-WeißÄsthetik. Dem gegenüber bedeutet eine kieferorthopädische Therapie aber, insbesondere bei Erwachsenen, einen großen apparativen Aufwand und eine lange Behandlungsdauer. Und – wenn auch andere Therapieoptionen möglich sind, muss über alle Nebenwirkungen und Risiken besonders gut aufgeklärt werden. Die Entscheidung, ob man als Zahnarzt zu einer kieferorthopädischen Behandlung, die Zähne in zahnlose Bereiche verschiebt, raten oder davon abraten und eine prothetische Lösung anbieten soll, ist oft nicht einfach. Um unserer Aufklärungspflicht nachzukommen und auch aus forensischen Gründen sollte sie in jedem Fall gut begründet sein.

Fallbeispiel:

Dazu möchte ich anhand eines 27-jährigen Patienten ein Fallbeispiel diskutieren. Er wünschte zur Herdsanierung die Entfernung seiner wurzeltoten unteren Sechser, und auch die Entzündungen im Bereich der teilretinierten unteren Weisheitszähne bereiteten ihm Sorgen. Weil ihm der Vorschlag, alle Achter und die unteren Sechser entfernen zu lassen und die Lücken im Unterkiefer prothetisch zu versorgen, nicht gefiel, wurde er in meine Ordination überwiesen. Bei einem Erstgespräch hatte er folgendes primäres Anliegen:
„Können Sie nach Extraktion der devitalen Zähne die Siebener nach vorne schieben und ausreichend Platz und eine gute Einstellung der unteren Achter schaffen?“ Nach der klinischen Untersuchung hatte der Patient eine Klasse-I-Verzahnung, der Zahn 21 war nach einem Trauma in der Kindheit mit Bruch der Kante provisorisch überkront. Bei lückig stehenden Frontzähnen in beiden Kiefern bestand ein posteriorer Engstand mit teilretinierten Weisheitzähnen im Unterkiefer. Ich entschied, dem Wunsch des Patienten zu entsprechen und nach Entfernung von 36 und 46 die Lücken von distal zu schließen. Dafür war primär eine Teilbebänderung im unteren Seitenzahnbereich ausreichend. Zur Verankerung wählte ich Minischrauben, die interradikulär zwischen den Prämolarenwurzeln gesetzt wurden. Als nach etwa einem Jahr diese Lücken weitgehend geschlossen waren, die unteren Siebener an der Stelle der Sechser und die unteren Achter vollständig durchgebrochen und an der Stelle der Siebener standen, wollte mein Patient auch die Zahnzwischenräume im Frontzahnbereich geschlossen haben. Mit einer Vollbeklebung konnte ich auch diesem Anliegen entsprechen. Die gesamte kieferorthopädische Behandlung dauerte schließlich zwei Jahre und fünf Monate. Meinem Rat, nun im Anschluss auch die alte Krone bei 21 durch eine neue zu ersetzen, ist er bis heute nicht gefolgt. „Die alte Krone ist für mich ok“, meint er, und das macht deutlich, dass nicht alles, von dem man als Behandler glaubt, es wäre für Patienten vorteilhaft, von
diesen auch so gesehen wird.

MR Dr. DORIS HABERLER
niedergelassene
Kieferorthopädin in Wien
office@dr-haberler.at



Bilderserie zum Fallbeispiel:

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