Fallbeispiel - Kieferorthopädie in der Praxis:

Eine wesentliche Anforderung an eine kieferorthopädische Praxis heute ist ein behindertengerechter Zugang.  Diese Tatsache wurde früher leider kaum beachtet, und so sind Ordinationsräumlichkeiten, die, so wie meine, schon viele Jahre bestehen, häufig nur über einige Stiegen zu erreichen. 

Wie wichtig Barrierefreiheit im Alltag ist, weiß ich als Mutter von zwei Kindern und nun Omi von Zwillingen aus eigener Erfahrung. In unserer Ordination fanden sich deshalb immer starke Hände, die den Betroffenen von der Straße in die Praxis und bei Bedarf in den Behandlungsstuhl halfen. Spezifisch für eine kieferorthopädische Praxis sind aber Patienten, die ganz andere Arten von Behinderungen aufweisen. Ihre Behinderungen finden sich im Kiefer-Gesichts-Bereich. Sie zeigen Störungen der oralen Funktionen, häufig kombiniert mit geistigen Defiziten. Die zahlreichen Barrieren, die für diese Patientengruppe bestehen, und die nach wie vor wenig beachtet werden, möchte ich anhand eines Fallbeispiels thematisieren.

Fallbeispiel:

Es handelt sich um einen Patienten mit einseitiger Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte, der nicht nur in seiner dentalen Entwicklung, sondern auch in seiner geistigen Entwicklung weit hinter seinen Altersgenossen zurückgeblieben war. Im Alter von zehn Jahren erlaubte er mit viel gutem Zureden der Mutter extraorale Fotos und mit dreizehn Jahren bereits auch intraorale Aufnahmen und das Erstellen von Gipsmodellen. Da hatten gerade erst die zentralen Schneidezähne im Oberkiefer und im Unterkiefer gewechselt, und der Durchbruch der  Sechsjahrmolaren war noch nicht vollständig abgeschlossen. Es zeigten sich aber bereits die ausgeprägten Störungen eines Spaltträgers. So war der obere Zahnbogen extrem schmal, das Gaumengewölbe war nach dem Spaltverschluss flach, und die unteren Seitenzähne waren über die tief im Mundboden liegende Zunge nach lingual gekippt. Trotzdem war eine Kreuzbisssituation entstanden. Ich vertröstete die Eltern, die verständlicherweise auf Therapiemaßnahmen drängten, mit dem Beginn der Behandlung auf einen späteren Zeitpunkt. Weitere Termine dienten nicht nur der Kontrolle der Gebissentwicklung, sondern auch dem besseren gegenseitigen Kennenlernen und der Vertrauensbildung. Mein Patient, der sich mittels der Sprache nicht verständigen konnte, zeigte mit Gesten und Verhaltensweisen seinen Willen und wir, die Eltern und unser Team, versuchten – wie man es auch bei der Behandlung von Kleinkindern macht – mit Vorzeigen und mit einfachen Worten jeden einzelnen Schritt vor einem geplanten therapeutischen Vorgehen zu erklären.
Viele Gespräche mit den Eltern  mussten geführt werden, und eine intensive interdisziplinäre Absprache mit dem Kieferchirurgen war nötig, bis schließlich die apparative kieferorthopädische Behandlung starten konnte. Kieferorthopädisch-chirurgische Maßnahmen wollten die Eltern ihrem Kind nach Möglichkeit ersparen. Eine Kombinationsbehandlung wäre in dieser Situation komplex und ein zufriedenstellendes stabiles Ergebnis wegen der Behinderung fraglich gewesen. Wir einigten uns darauf, die Zahnstellung vorerst bestmöglich zu verbessern. Das wünsche sich auch der Patient, der – mittlerweile über achtzehn Jahre alt – gerade erst die letzten Milchzähne gewechselt hatte, indem er auf seine Zähne und auf das Foto eines Mädchens mit Brackets zeigte. Der Versuch, den Oberkiefer transversal ausreichend zu weiten, scheiterte. Die Apparatur ging mehrmals kaputt. Die verlagerten oberen Eckzähne konnte ich aber einordnen und die Frontzähne gefällig anordnen. Während der gesamten Behandlung war der Patienten motiviert und am Ende auf das erreichte Ergebnis stolz. Ich verbleibe aber, wenn es um das Thema „behindertengerecht“ geht, mit meiner Erfahrung: Auch wenn der Anteil von Menschen mit Behinderungen im Kopfbereich in der Bevölkerung glücklicherweise selten ist, in einer Fachpraxis für Kieferorthopädie ist er entsprechend hoch. Für diese Patienten wären behindertengerechte und nicht Ausnahmeregelungen wünschenswert. So sollte auch in Zukunft eine Kostenbeteiligung durch die Krankenkassen von medizinischer Notwendigkeit und nicht von gesetzlichen Bestimmungen abhängig gemacht werden. Sind hier Werte wie Zeit, Vertrauen, gewohnte Umgebung und ein erreichtes gutes Arzt-Patienten-Verhältnis nicht notwendiger als ein Par-Index und eine Altersbegrenzung?

MR Dr. DORIS HABERLER
niedergelassene
Kieferorthopädin in Wien
office@dr-haberler.at



Bilderserie zum Fallbeispiel:

Zum Vergrößern bitte anklicken