Sport und Zahnmedizin: Mit ganzheitlicher Zahnmedizin zur nächsten Goldmedaille

Vor ein paar Jahren wurde ich zu einem Kongress nach Südafrika eingeladen. Meine Zusage erfolgt nahezu in derselben Minute, denn einer der Hauptreferenten war eines meiner medizinischen Idole: J. P. Meersseman. 

Um diesen Mann rankten sich in meinem Kopf Legenden, war er doch Leibarzt von Berlusconi und sportlicher Leiter des AC Mailand zu seinen erfolgreichsten Zeiten. Ihm wurde viel Gefühl für seine Patienten nachgesagt. Angeblich fand er Lösungen, die sonst keiner finden konnte. Ihm wurde ohne Nachfrage vertraut, wenn er auf den Verkauf von Spielern hinwirkte, immer kurz bevor Verletzungen auftraten, und den Kauf von schon lange verletzten Spielern in Auftrag gab, die unter seiner Obhut schnell Heilung erfuhren.
Bei einem typischen Grillfest und ein paar Gläsern Rotwein wollte ich hinter das Geheimnis seines Erfolges kommen und stellte ihm die Frage, wie er das alles geschafft habe. Seine Antwort war einfach „Ich kenne meine Jungs eben, und den wichtigsten Schlüssel hast du als Zahnarzt mehr in der Hand als ich, Zähne und Kiefer gehören zu den wichtigsten Faktoren der Gesundheit. Deshalb ist meine Frau auch Zahnärztin!“, sagte er mit einem Augenzwinkern.
Zu dieser Zeit untersuchte ich bereits seit einigen Jahren für einen deutschen Bundesligaverein die potenziellen Neukäufe in einem zahnärztlichen Check-up und führte gegebenenfalls chirurgische Sanierungen oder Schienentherapien durch. Die Bedeutung dieser Arbeit für den langfristigen sportlichen Erfolg wurde mir allerdings erst nach diesem Statement und der eingehenden Beschäftigung mit diesem Thema und dem, was ich bewirken kann, klar. Und mehr und mehr bestätigt sich meine Vermutung: Ein Teil jedes Wettkampfes wird auf dem Spielfeld entschieden. Der andere Teil, der im Spitzensport von entscheidender Bedeutung ist, ist die Frage: Wer hat das beste medizinische Team. Ganz gleich, ob Hobbytriathlet oder Profifußballer, immer wieder hatte ich miterleben können, welchen teilweise sogar die Karriere entscheidenden Einfluss die Medizin und vor allem die Zahnmedizin hier haben kann.
Auch die Wissenschaft hat die Bedeutung, die uns Zahnärzten in diesem Bereich zukommt, inzwischen erkannt. Eine Auswertung von 39 Studien, veröffentlicht im British Journal of Medicine zur Zahngesundheit von Spitzensportlern, ergab, dass 75% der Athleten unter Zahnproblemen, zudem hatte  bis zu 15% der Sportler Zahnfleischprobleme und 36 bis 85% abgenutzten Zahnschmelz.

Zahnprobleme treffen Sportler schneller

Solche Zahnprobleme beeinflussen genau die Faktoren, von denen wir alle wissen, dass sie jeden unserer Patienten in seiner Allgemeingesundheit beeinträchtigen können, nämlich Schmerzen, dauerhafte Entzündung auf der einen und eine optimale Nahrungsmittelaufnahme und erholsamen Schlaf auf der anderen Seite. Symptome, bei denen die Patienten die Folgen oft erst nach jahrelangem Raubbau an ihrem Körper merken, kommen bei Sportlern und anderen Spitzenleistern viel schneller zum Tragen. Durch die dauerhafte Leistungserbringung am Limit kann in unserem zahnärztlichen Bereich der entscheidende Unterschied zwischen Gewinn und Verlust, zwischen Olympiagold und dem undankbaren zweiten Platz, zwischen Versagen und Leistung-auf-den-Punkt-abrufen-können liegen. Dabei wären die ersten Strategien in diesen Bereichen weder zeit- noch kostenintensiv. Und auch wenn bereits bei einer Befragung im Olympiadorf in London 2012 18% aller Sportler einräumen mussten, dass sie dort wegen Zahnproblemen schon sportliche Einbußen erlitten hätten, gaben gleichzeitig 46% an, ihren Zahnarzt nicht allzu regelmäßig aufzusuchen. Auch die Ernährung und die Nahrungsaufnahme leidet gerade dann, wenn es darauf ankäme, dem Körper nur gute Bausteine zur Verfügung zu stellen – in Phasen hohen Trainingsaufwandes und Wettkampfstresses immer wieder.

Sprinter mit Muskelkrämpfen

Vor zwei Jahren stellte sich ein 17-jähiger Sprinter in meiner Praxis vor. Sein Trainer und er standen seit einiger Zeit vor Problemen. Zum einen litt der junge Mann seit ca. sechs Monaten an immer wiederkehrenden Muskelkrämpfen. Seine Laktatmessungen waren schlechter als zuvor, ebenso seine Regenerationszeiten. Seit Kurzem waren jetzt auch noch Kniebeschwerden auf der linken Seite aufgetreten. Die Videoanalyse hatte ergeben, dass er kurz vor dem Ziel, nämlich immer wenn er im wahrsten Sinne des Wortes die Zähne aufeinander biss, um die letzen Kraftreserven zu mobilisieren, ein verändertes Bewegungsmuster zeigte. Dies kostete ihn Rennen um Rennen die Sekunden für den Sieg. Nachdem bereits von medizinischer Seite eine allgemeine Untersuchung durchgeführt worden war, sollte auch ich noch prüfen, ob es irgendwelche zahnärztlichen Zusammenhänge geben könnte. Manchmal ist die ganzheitliche Medizin sehr einfach, und was mein Kollege mit seinen Apparaten und sinnvollen Laboruntersuchen nicht herausfinden konnte, war die Ursache, die wirklich dahinter stand. Deshalb ist der erste Schritt für mich, um ganzheitlich an Dinge heranzugehen, die ausführliche   Anamnese. Die Frage, die jeder von Ihnen täglich in der Praxis verwendet und die die Ursache offenbarte, ist simpel: Was hat sich vor sechs bis zwölf Monaten in Deinem Leben verändert?
Der Sportler war in dieser Zeit von zu Hause ausgezogen um für das Leistungstraining näher bei seiner Trainingsstätte zu wohnen. Nicht immer kam er zu regelmäßigem Essen. Also hatte er begonnen, seine Energiespeicher häufig mit zucker- und säurehaltigen Energiedrinks wieder aufzufüllen. Hierdurch war es zu einer Störung im Säure-Basen-Haushalt gekommen. Um die Säure zu puffern, war beim Patienten viel Kalzium verbraucht worden, was sich auch mit dem niedrigen Kalziumspiegel in der Vollblutanalyse des medizinischen Kollegen deckte. Durch diese fehlende Pufferkapazität war dann auch die Veränderung bei den Laktatmessungen zu erklären.

Die Hüfte und der Seitenzahnbereich

Der junge Mann hatte bereits angefangen, sehr viele Milchprodukte zu sich zu nehmen. Da ihre Verstoffwechslung allerdings eine erneute Säurelast mit sich bringt, ist die Kalziumbilanz bei Milchprodukten negativ und ein Auffüllen der Speicher auf diese Weise nicht möglich.
Woher kamen nun aber die Knieschmerzen? Dies ist für jeden Zahnarzt natürlich offensichtlich. Durch die dauernden Säureangriffe war es bedauerlicherweise an zwei Backenzähnen einer Seite zur Schädigung der Zahnhartsubstanz gekommen. Wie allgemein bekannt ist, verändert eine fehlende Abstützung im Seitenzahnbereich die Lagebeziehungen des Kiefergelenks und beeinflusst darüber auch die Statik von Hüfte und Knie. Dies war die Ursache für die Veränderung des Gangbildes in der Videoanalyse und langfristig auch für die Schmerzen.
Dem Patienten wurde mittels funktioneller Myodiagnostik demonstriert, dass bereits ein Schluck seines Energydrinks sein muskuläres System in eine Dysbalance brachte und er deswegen als richtiger Sportler besser auf Wasser und verträgliche hypotonische Getränke zurückgreifen sollte. Im Sinne der Ganzheitlichkeit sprachen wir mit ihm auch über eine individuelle, gesunde Ernährung und gaben Tipps zur praktischen Umsetzung. Zudem wurden die sich aus dem Blutbild ergebenden Vitamin- und Mineralsstoffmängel in Absprache mit dem medizinischen Kollegen über Orthomolekularia aufgefüllt. An den geschädigten Zähnen wurde eine Rekonstruktion mit auf Verträglichkeit geprüften Füllungsmaterialien durchgeführt und die Okklusion und Artikulation nach orthopädischen Gesichtspunkten angepasst. Dank seines jugendlichen Körpers war Woche für Woche eine Regeneration und Verbesserung der sportlichen Leistung ersichtlich.

Fußball und Weisheitszahn

Der Einfluss von Zähnen auf sportliche Leistung erfolgt jedoch auch noch viel direkter. Ich erinnere mich zum Beispiel an einen Fußballer der zweiten Bundesliga, der laut Angaben seines Trainers das Potenzial hatte, ein ganz Großer zu werden. Plötzlich kam es bei diesem Talent zu einem nicht erklärbaren Leistungseinbruch mit Verlust der Schusskraft mit dem Innenrist.
Ich führte eine normale zahnärztliche Untersuchung durch, die in der rein schulmedizinischen Betrachtung keinen Hinweis auf ein krankhaftes Geschehen gab und als einzige Auffälligkeit die retinierten Weisheitszähne im Röntgenbild zeigte. Es wurde zusätzlich auch eine ganzheitliche Untersuchung mit funktioneller Myodiagnostik durchgeführt. Dabei fanden sich tatsächlich Zusammenhänge zwischen den muskulären Schwächen des Fußballers und einem der Weisheitszähne. Wie bereits J. Gleditsch in Rahmen der Mundakupunktur beschrieben hat, liegt lingual-distal der Weisheitszähne das Nieren-Areal. Immer wieder habe ich feststellen können, dass retinierte und mit ihren Wurzeln nach lingual verlagerte Weisheitszähne hier eine Reizung verursachen können. Diese kann dann auch auf Muskeln übertragen werden, die ebenfalls einen funktionellen Zusammenhang zu diesem Organ haben. Im Fall meines Patienten kam es deshalb zu einer Dysfunktion des M. Psoas, der an seinem Bewegungsablauf beim Schuss mit dem Innenrist beteiligt war.
Gemeinsam mit dem Patienten haben wir uns für die Entfernung dieser Zähne mit entsprechender Vor- und Nachbehandlung entschieden. Bereits vier Tage nach dem Eingriff konnte sich unser Profi wieder ans Lauftraining machen. Nach zehn Tagen berichtete er mir, dass er im Training schon wieder fast bei seiner alten Form angekommen sei.
Wie schon gesagt, sind Spitzenleister natürlich eine besondere Patientengruppe, deren auf Höchstleistung trainierter Körper sensibler auf Störungen reagiert, als es bei vielen anderen Patienten der Fall ist. Dennoch kommt es immer wieder zu negativen Einflüssen aus dem stomatognathen System auf den Rest des Körpers. Da viele Mediziner leider noch immer nicht die immense Bedeutung des oralen Systems für die allgemeine Gesundheit und das Wohlbefinden erkannt haben, liegt es an uns als Zahnärzte, uns mit solchen ganzheitlichen Zusammenhängen zu beschäftigen, um sie dann im Akutfall auch erkennen und entsprechend reagieren zu können.

Dr. EVA MEIERHÖFER
FA für Oralchirurgie
Klagenfurt
praxis@meierhoefer.at