Heißes Thema: Bionator oder Gratiszahnspange

beiden derzeit häufigsten Anfragen in meiner Ordination. Und sie beschreibt die schwierige Lage für Kieferorthopäden, weil wir kaum mehr wissen, was wir unseren Patienten eigentlich raten sollen.

Die Anfrage nach einem Bionator kommt meist von sehr gesundheitsbewussten Eltern, die ein möglichst biologisches Gerät für eine optimale Entwicklung suchen. Sie sind oft enttäuscht, dass ich mit ähnlichen Geräten arbeite, aber nicht mit dem Original-Bionator.
Entwickelt wurde der Bionator von Wilhelm Balters 1964. Das Gerät besteht prinzipiell aus einem Kunststoffblock, ähnlich wie beim Aktivator, aber mit viel Platz für die Zunge. Es gibt einen Transversaldraht mit einer breiten Schlaufe, diese soll die Ausformung des Gaumens begünstigen – als  ideal sieht Balters die umgekehrte Eiform an. An der Außenseite der Spange liegt ein Labialbogen mit großen Schlaufen im Seitzahnbereich, die die Wangen abhalten sollen, für stärkere Wirkung kann man Kunststoffschilde daran befestigen. Im Frontzahnbereich liegt der Bogen an – beim Klasse-2-Gerät im Oberkiefer, beim Klasse-3- Gerät im Unterkiefer. Der Bionator hat keine weiteren Drahtelemente, es soll kein aktiver Druck auf Zähne oder Gaumen erfolgen.
Die Philosophie eines Bionators besteht darin, den Zähnen Platz zur Verfügung zu stellen – durch Ausschleifen des Kunststoffes. Das zweite wesentliche Prinzip ist das Abhalten der Weichteile und dadurch auch das Abstellen von Habits. Für die volle Wirkung muss der Bionator eigentlich immer außer beim Essen und Putzen getragen werden, vor allem aber tagsüber beim Sprechen, Singen und bei speziellen Bewegungsübungen.

Bionator mit Wangenschildern

Bionatortherapeuten bieten auch Gruppentherapie an, wo die Kinder Atemübungen machen, singen und turnen. Die wichtigste Übung, die den Lymphabfluss in Gang bringt, kann man auch leicht zu Hause machen: Das Kind steht – mit Spange im Mund – an eine offene Tür gelehnt. Es hält eine Gummischlaufe in den Händen (zwei Meter Hosengummi, zusammengenäht). Beim Einatmen streckt das Kind die Arme nach oben und hinten, beim Ausatmen beugt es sich vor und lässt Kopf und Arme nach unten fallen.
Wird der Bionator entsprechend den Anweisungen von Balters verwendet, ist die Wirkung hervorragend. Das bedeutet aber auch eine Lebensumstellung. Als Zahnspange alleine, wie ein Aktivator vor allem nachts getragen, wirkt der Bionator bei weitem nicht so effektiv wie die verschiedenen Aktivatortypen.
Ich habe einige Patienten, die ihre Zahnspangen wirklich konsequent auch tagsüber tragen und myofunktionelle und osteopathische Therapie in Anspruch nehmen. Bei diesen funktioniert der Bionator hervorragend. Die Mehrheit der Familien hält diese umfassenden, echt orthopädisch wirkenden Maßnahmen trotz anfänglicher Begeisterung aber nicht lange genug durch. Deshalb habe ich mich entschlossen, die genialen Erkenntnisse von Balters in andere Spangen zu integrieren, die alle Prinzipien von Balters beinhalten und Zusatztherapien genauso zulassen. Gleichzeitig kann ich in die diversen Aktivatortypen aktive Drahtelemente einbauen, etwa Kipp- oder Rotationsfedern, sodass auch ein relativ hohes Maß an orthodontischen Bewegungen möglich ist.
Durch individuelles Design kann ich entscheiden, welche Wirkung mir am wichtigsten erscheint. Das heißt, ich zeichne jeden Auftragszettel für das zahntechnische Labor bei der Planung ganz detailliert. Meine Lieblingsgeräte sind der elastisch offene Aktivator und der Kybernetor (Aktivator, im palatinalen Bereich hinter der oberen Front ist der Kunststoff stark reduziert, um Platz für die Zunge zu haben). Die Transversaldrähte sind breit und rund wie beim Bionator, ich kombiniere Pelotten und Wangenschilde dazu, ich kann einen Kybernetor aber auch bei Bedarf mit Pfeilklammern festklemmen oder einen Headgearbügel in der Stützzone des Seitzahnbereiches einbauen.
Alle diese Geräte haben deutliche skelettale Wirkungen, bei kleineren Kindern, auch wenn sie nur nachts verwendet werden. Ganz wichtig ist natürlich, dass der Einsatz der Geräte dann erfolgt, wenn das stärkste Wachstum des sich falsch entwickelnden Kieferteiles erfolgt. Dies ist z.B. beim kleinen Unterkiefer mit etwa acht Jahren der Fall. Unterkieferpelotten oder ein Funktionsregler nach Fränkel bringen im Fernröntgen deutlich nachweisbares verstärk-tes Wachstum des Unterkiefers.
Die Geräte sollten dann bis zum Ende des Zahnwechsels verwendet werden, sonst besteht eine relativ hohe Rezidivgefahr. Ist der Zahnwechsel abgeschlossen, ist die Stabilität des Ergebnisses gerade nach herausnehmbaren Spangen sehr gut. Lediglich die Weisheitszähne sollten gegen Ende der Zahnspangenphase kontrolliert werden und müssen bei Bedarf zeitgerecht entfernt werden. Lehnen die Eltern das ab, muss man Retentionsgeräte einsetzen, um neuerliche Zahnverschiebungen zu verhindern.
Eine derartige Kieferorthopädie braucht meist etwa drei Jahre, in einigen Fällen, wie etwa einer Klasse 3 mit Schuld im Unterkiefer auch deutlich länger – (mit Pausen) über das gesamte Wachstum.
Das Hauptziel einer abnehmbaren Spange ist die harmonische Kieferentwicklung, meist gelingen auch Einzelzahnbewegungen zufriedenstellend. Sollte dies einmal nicht der Fall sein, wäre eine festsitzende Phase kürzer und die Knochenbasis jedenfalls vorhanden.
Manchmal wollen die Eltern keine über Jahre dauernde Zahnspange, die immer wieder nachgestellt werden muss und an die man die Kinder erinnern muss. Wenn sie zu lange zuwarten, kann es aber sein, dass die skelettal eher begrenzte Wirkung einer fixen Zahnspange nicht mehr ausreicht und eine chirurgische Korrektur erforderlich wird. Die operativen Methoden werden natürlich immer perfekter, aber immerhin werden die Knochen in Segmente zersägt und verplattet, wobei die Platten und Schrauben zarter geworden sind, aber dafür im Regelfall im Kiefer verbleiben. Aus ganzheitlicher Sicht wäre da natürlich eine lang dauernde Regulierung vorzuziehen.
Nach dieser langen Einleitung ergibt sich ganz logisch, dass ich mit den neuen Gratisvarianten nicht ganz glücklich bin (Wissensstand Anfang April). Die interzeptive Zahnspange entspricht der auch bisher praktizierten Frühbehandlung, wenn eine Zahnfehlstellung sich selbst verstärken würde. Das Ziel ist eine normale Weiterentwicklung der Kiefer. Paradebeispiel ist der Kreuzbiss eines Schneidezahnes. Da genügt ein rasches Überstellen des Zahnes tatsächlich in vielen Fällen.
Bei den meisten anderen Indikationen, etwa dem Kreuzbiss einer oder beider Seitzahnbereiche oder dem extremen Tiefbiss, wird eine Retention oder Weiterbehandlung mit Funktionsgeräten nötig sein, damit kein Rückfall erfolgt. Unter welchen Bedingungen bzw. auf wessen Kosten diese Wachstumsregulierung erfolgen kann, ist noch nicht ganz klar. Aus rein kieferorthopädischer Sicht ist eine solche Behandlung jedoch anzuraten.
Die eigentliche Gratiszahnspange ist eine fixe Zahnspange mit Metallbrackets. Geplant ist der Einsatz dieser Regulierung zwischen dem 12. und 18. Lebensjahr, in seltenen Fällen wie einer noch im Wachstum befindlichen massiven Progenie muss nur die Einstufung vor dem 18. Geburtstag erfolgen. Die fixen Zahnspangen sind bei Zahnbewegungen deutlich überlegen, die orthodontische Wirkung ermöglicht wunderschöne Zahnreihen. Die orthopädische Wirkung ist jedoch eher gering, ein Großteil der Kieferentwicklung ist nach dem Zahnwechsel abgeschlossen – bei massiven skelettalen Diskrepanzen brauchen wir die Hilfe der Chirurgen. Auch für die kombinierten Behandlungen ist die Kostenverteilung noch nicht ganz klar.
Soweit wir bisher wissen, wird wahrscheinlich die fixe Phase etwas länger dauern, da nur ein einziges Retentionsgerät inkludiert ist. Ein Teil der Feineinstellung und Retention muss daher mit den festsitzenden Spangen stattfinden, die heute meist üblichen Aligner sind ein zu großer Aufwand (wegen zahlreicher Reparaturen und Neuanfertigungen).
Das könnte Probleme bei Patienten mit Nickelallergien verstärken – bisher konnten wir durch den Einsatz von Keramikbrackets und möglichst kurze festsitzende Phasen (und dafür längere Alignertherapie) die Entwicklung von Symptomen meist verhindern.

Das klingt jetzt, als ob ich gegen die Gratiszahnspange wäre?
Ich mache jetzt seit 33 Jahren Zahnspangen. Dass gerade die schwersten Fehlstellungen relativ wenig Zuschuss im Vergleich zu den anfallenden Kosten bekamen, hat uns Kieferorthopäden eigentlich immer gestört. Die Behandlung mit abnehmbaren Geräten war jedoch Teil des Gesamtvertrages und wir haben uns trotz einiger Verhandlungsversuche auf keine Anpassungen an modernere Methoden einigen können.
Jetzt gab es einen politischen Kraftakt – für alle Verhandlungspartner überraschend und mit einer Fülle an Details, die eine Vertragsgestaltung schwierig gemacht, allerdings auch ernsthafte Verhandlungen erzwungen haben.
Im Moment stehen wir vor großen Änderungen im System. Wir haben kaum fundierte Zahlen, können nur schätzen, wie viele Patienten wirklich Anspruch auf die Gratiszahnspange haben werden. Es ist auch nicht klar, wie viele Kollegen sich um diesen Vertrag bewerben werden oder als Wahlkieferorthopäden arbeiten wollen. Die Versicherungsträger haben daher auch wenig Überblick über die tatsächlich anfallenden Kosten. Fazit: Alle Beteiligten stehen den Neuerungen mit Skepsis oder gar Angst gegenüber.
Schon im Gesetz, aber auch im Vertrag sind Ausstiegsszenarien eingebaut – der Vertrag kommt etwa nicht zustande, wenn sich nicht genug Vertragszahnärzte für eine flächendeckende Versorgung finden oder das Budget überschritten wird.
Aber auch die tatsächliche Behandlung birgt Fallstricke: Es gibt nur bei der interzeptiven Spange eine Bewilligung, aber am Ende der fixen Spange eine Erfolgsbeurteilung. Die Einstufung nach der IOTN-Graduierung und erst recht die Abschlussbeurteilung nach dem PAR-Index sind ungewohnt und nicht immer eindeutig. Die Kollegen haben Angst vor der neuen Lage und schrecken daher vor Investitionen, die die Berechnungen erleichtern könnten, zurück.
Im Moment ist eine kieferorthopädische Beratung oft peinlich: Ich kann mittlerweile zwar abschätzen, ob IOTN 4 oder 5 vorliegt, weiß aber nicht, ob ich zu den 32 Kollegen in Wien zählen werde, die einen Vertrag bekommen sollen (ja noch nicht einmal, ob sich so viele oder wesentlich mehr bewerben werden). Ich muss den Patienten also mehrere Behandlungsmöglichkeiten mit Vor- und Nachteilen sowie Kosten schildern, wobei sich die meisten dann nicht mehr auskennen. Gar nicht wenige Patienten (und auch einige Kollegen) meinen, so eng müsse man die unklaren Richtlinien ja nicht auslegen – da sehe ich aber viel Arbeit für eine laut Vertrag zu bildende Schlichtungskommission auf uns zukommen. Wenn von mehreren Patienten die Unterlagen streng geprüft werden, bedeuten allein die Stellungnahmen viel Arbeit.
Eine besondere Feinheit sind die Fragen der Patienten, ob sie jetzt nicht etwas für ihre bereits bezahlte Zahnspange zurückfordern können oder wieso sie für ihre schon länger laufende Zahnspange weiterhin Patientenanteile bezahlen müssen. Das kostet Zeit und Nerven.
Andererseits ist es verständlich, dass sich Patienten unter „Gratiszahnspange für alle“ eindeutig etwas anderes vorgestellt haben.

MR Dr.
EVA-MARIA HÖLLER
Zahnärztin und
Kieferorthopädin in Wien
Schwerpunkt: Komplementärverfahren
Gerichtlich beeidete Sachverständige
mit Zusatzbezeichnungen
Kieferorthopädie und
Komplementärverfahren
ordi.hoeller@aon.at

Baltersübung 1 & 2