Fallbericht - Kieferorthopädie in der Praxis:

Die Wahl der beim Jugendlichen durchgeführten Behandlung ist bestimmend für das Aussehen im späteren Leben

Schon immer gehörte es zu den Aufgaben der Kieferorthopädie, gleichzeitig mit der Verbesserung der Zahnstellung auch das Aussehen der Patienten positiv zu verändern. Während aber die Klassifizierung der Zahnfehlstellungen und das okklusale Behandlungsziel nahezu unverändert geblieben sind, hat die Diagnostik der Ästhetik einen grundlegenden Wandel vollzogen. Jene, die so wie ich schon viele Jahre kieferorthopädisch tätig sind, erinnern sich sicher noch an die Zeit, in der zur Beurteilung der Weichteile ausschließlich eine Ästhetik-Linie, am seitlichen Fernröntgenbild eingezeichnet, diente. Diese wurde zum Beispiel nach Ricketts von der Spitze der Konturlinie der Nase zur Kinnspitze gezogen. Die Unterlippenkontur sollte im Idealfall 2mm hinter dieser Linie liegen. Bei Patienten, bei denen sie weiter zurück oder umgekehrt weit vor dieser Linie verlief, sollten die Frontzähne, um die Gesichtsästhetik zu verbessern, protrudiert bzw. retrudiert werden. Diese einfachen Überlegungen sind heute nicht mehr zeitgemäß. Lehrer wie Vinzent Kokich, David Saver oder Björn Zachrisson, um nur die Bekanntesten zu nennen, haben uns gezeigt, wie man die Proportionen der Weichteile des Gesichtes, die Position der Zähne im Mund, die Rot-Weiß-Ästhetik sowie Form, Größe und Farbe der Zähne analysiert und welche therapeutischen Konsequenzen man daraus ziehen muss, um perfekte ästhetische Ergebnisse erzielen zu können. Seither sehen wir in den diversen Fortbildungsveranstaltungen nur mehr Patientenbeispiele mit Behandlungsergebnissen, die diesen ästhetischen Richtlinien entsprechen. Die tägliche Praxis sieht aber häufig anders aus.

Fallbeispiel

Dazu möchte ich als Fallbeispiel einen 11,3 Jahre alten Jungen zeigen, der mit seiner Mutter in meine Ordination kam. Beide wünschten eine rasche und effiziente Behandlung, nachdem eine vorangegangene Therapie mit Head-Gear und Dehnplatten wegen mangelnder Mitarbeit ohne Erfolg abgebrochen worden war. Nach den Fernröntgenwerten war seine Schädelform retrognath, der Patient hatte eine halbe Klasse-II Verzahnung beidseits und einen Raummangel in beiden Kiefern. Klinisch auffällig waren ein großer nasolabialer Winkel, ein hyperaktiver M. mentalis und ein erschwerter Lippenschluss.
Nach gründlicher Analyse der diagnostischen Unterlagen entschloss ich mich zu einer festsitzenden Apparatur und der Extraktion von vier Praemolaren. Als ich die Brackets 27 Monate später entfernte, war ich der Meinung, die Behandlung erfolgreich abgeschlosssen zu haben. Die Zahnbögen waren gut ausgeformt, die Angel-Klasse und die Neigungen der Frontzähne im Kontrollfernröntgenbild waren korrigiert und das Gesichtsprofil wirkte harmonisch.
Bereits drei Jahre später, der Patient war zu dem Zeitpunkt 16,5 Jahre alt, zeigte sich ein verstärktes Wachstum von Nase und Kinn, was die Konkavität des Gesichtes wieder verstärkte. Eine beginnende Verschlechterung der Zahnstellung führte der Patient auf den gleichzeitigen Durchbruch der Weisheitszähne zurück, die er umgehend entfernen ließ.
Zuletzt habe ich meinen Patienten mit 18,7 Jahren gesehen und alle Unterlagen nochmals genau studiert. Nach meiner Analyse kam ich zu folgendem Schluss: Das Wachstum ließ sich nicht beeinflussen.  Die Aufgabe der Kieferorthopädie ist allerdings primär, die Zahnstellung des Patienten zu korrigieren und für ein langfristig stabiles, funktionell zufriedenstellendes Gebiss zu sorgen. Um diese Ziele für alle Patienten zu erreichen, gibt es, wie die Langzeitnachuntersuchung meines Fallbeispiels zeigt, noch genug zu tun.

MR Dr. DORIS HABERLER
niedergelassene
Kieferorthopädin in Wien
office@dr-haberler.at


Bilderserie zum Fallbeispiel:

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