Fallbericht: Kieferorthopädie in der Praxis

„Es geht nicht an, dass sich, wie das heute im Allgemeinen der Fall ist, nur die Kinder wohlhabender Eltern einer Regulierung unterziehen können.“ Dieser Satz stammt nicht, wie man annehmen könnte, von unserem Gesundheitsminister Stöger, sondern von dem österreichischen Kieferorthopäden A. Martin Schwarz.

Weltweite Berühmtheit erlangte A. M. Schwarz mit seinen Dehnplattenapparaturen, die er mit einer speziellen Schraube versehen und mit verschiedensten Federn ausgestattet hat, um damit nicht nur transversale und sagittale Probleme, sondern auch Einzelzahnfehlstellungen korrigieren zu können. Weniger bekannt ist sein Engagement, Wege zu finden, wie die Orthodontie dazu beitragen kann, um dem, wie er sagt, erschreckend großen Prozentsatz der Bevölkerung zu helfen, die mit Störungen des Gebisses behaftet sind.
In einem Sonderdruck in der Zeitschrift für Stomatologie beschäftigt er sich schon im Jahr 1929! mit den Fragen: „Können wir überhaupt helfen? Und wie können wir helfen?“.
So schreibt er: „Es wäre ein für die Zukunft der Orthodontie verhängnisvoller Fehler, die kostspieligen therapeutischen Methoden zu einer Conditio sine qua non zu erheben. Auf diese Weise wird uns die Bewältigung der sozialen Aufgabe in der Kieferorthopädie gewiss nicht gelingen. Bei aller Wertschätzung der vielen kunst- und geistvollen Apparaturen, die zur Behandlung der Anomalien des Gebisses ersonnen worden sind, sollte der Weg zur sozialen Lösung der kieferorthopädischen Probleme mit der Prophylaxe starten, damit es im Großen und Ganzen gar nicht zu den schweren Verbildungen des bleibenden Gebisses kommt, denn die Schwierigkeiten komplexer Fälle sind so groß, dass die Behandlung die Domäne des Spezialisten bleibt und damit ist zugleich auch schon das Moment der Kostspieligkeit gegeben.“
Heute, mehr als 80 Jahre später, ist die Frage: „Können wir überhaupt helfen“ natürlich eindeutig mit „Ja“ zu beantworten. Eine fast unüberschaubar große Zahl von kieferorthopädischen Apparaten und Techniken macht es möglich, dass bei jedem Patienten, der eine Behandlung seines Gebisses wünscht, optimale Ergebnisse erreicht werden können. Im Gegensatz zu früher ist die Anwendung der Geräte für den Arzt meist leicht zu erlernen und für den Patienten sind Schmerzen und ästhetische Beeinträchtigungen vermeidbar.
Die Frage: „Wie können wir helfen?“ ist nach wie vor schwieriger zu beantworten.
Auch wenn moderne, technisch aufwändige Apparaturen alle kieferorthopädischen Probleme lösen können, das Gerät selbst macht noch keine Behandlung. Ein erfahrener Arzt muss für jeden einzelnen Patienten das geeignete therapeutische Vorgehen festlegen.
Er muss bei einer Erstkonsultation also primär entscheiden, ob eine medizinische Behandlungsnotwendigkeit besteht bzw. in Zukunft zu erwarten ist. Das erfordert eine kieferorthopädische Diagnostik, denn erst nach der kieferorthopädischen Analyse kann dann das weitere Vorgehen objektiv entschieden werden. Besteht ein Behandlungsbedarf folgt ein kieferorthopädischer Behandlungsplan.
Da muss im zweiten Schritt bestimmt werden, ob eine apparative Therapie sofort beginnen soll oder ob ein Zuwarten vorteilhaft ist. Schließlich kann das Hinausschieben einer Behandlung genauso wie ein zu früher Beginn zu einer Mehrbelastung durch ein Ansteigen von Aufwand und Kosten führen.
Drittens muss beachtet werden, dass es bei unseren kleinen Patienten bei richtiger Indikation eine Reihe notwendiger, nicht apparativer Maßnahmen geben kann, die, will man effektiv helfen, durchgeführ werden müssen. Dazu zählen das Einschleifen von Milchzähnen bei funktionellen Kreuzbissen, die rechtzeitige Durchführung notwendiger Extraktionen von Milchzähnen im Falle von ausgeprägtem Platzmangel im Sinne einer Serienextraktion, das rechtzeitige Erkennen von palatinal verlagerten Eckzähnen und Extraktion des Milchdreiers. Im Falle von Aplasien ist es je nach Indikation die Extraktion oder der Erhalt entsprechender Milchzähne, je nachdem ob entweder ein Lückenschluss eingeleitet wird oder der Alveolarknochen für eine spätere prothetische Versorgung erhalten bleibt.
Die operative Entfernung von überzähligen Zähnen und die Durchführung notwendiger Extraktionen von bleibenden Zähnen ist wichtig.
Eine weitere wichtige kieferorthopädische Aufgabe ist, meist in Zusammenarbeit mit anderen Therapeuten, die Prophylaxe:
• die Aufklärung der Eltern über unphysiologische Arten des Saugens und Schluckens.
• die Bekämpfung der zahlreichen kindlichen Unarten wie Lutschen, Lippenbeißen
• die Aufklärung über Kariesrisiken und deren Vermeidung
• die Aufklärung über die häusliche Mundhygiene
• Aufklärung über gesunde Ernährung und Bewegung;
•  Sorge für eine richtige und kräftige Funktion des Kieferapparates;
•  Bekämpfung der Mundatmung.
Und schließlich ist die interdisziplinäre Planung bei Zahntraumen, multiplen Aplasien, Zahndurchbruchsstörungen und Kiefer-, und Gesichtsmissbildungen zu nennen.
Jedenfalls ist zu klären, welches Behandlungsziel eine gewählte apparative kieferorthopädische Behandlung anstrebt. Schließlich gibt es eine Reihe von Faktoren, die den Erfolg negativ beeinflussen, wie zum Beispiel Wachstumsfaktoren, Mitarbeitsbereitschaft oder die Mundhygiene, und auch die kieferorthopädische Apparatur selbst kann Schäden an Zähnen und Kiefern verursachen. Der Kieferorthopäde muss daher Risiken und Nutzen abwägen. Schließlich liegt es in seiner Verantwortung, ob eine Behandlung optimal, zufriedenstellend oder schädigend abgeschlossen wurde.
Ich möchte als Fallbeispiel eine junge Patientin mit einem frontoffenen Biss von mehr als 4mm zeigen. Die Mutter berichtete über ein jahrelanges Fingerlutschen. Nach der klinischen Untersuchung zeigten sich eine hypotone Lippenmuskulatur, eine habituelle Mundatmung, ein falsches Schluckmuster und eine schlechte Mundhygiene. Nach dem IOTN handelt es sich hierbei um eine schwere Fehlstellung mit hohem Behandlungsbedarf.
Ich habe mich in diesem Fall vorerst für Verhaltensempfehlungen entschieden, das Kind einem Logopäden zugewiesen und Fotos zur Dokumentation angefertigt. Zum nächsten Kontrolltermin drei Monate später konnte die Patientin beim Fotovergleich die Verbesserung selbst erkennen, was sicherlich auch eine Motivation war, die funktionelle Behandlung fortzuführen. Nach einem weiteren halben Jahr habe ich die Patientin im Alter von 9,1 Jahren aus der Behandlung vorläufig entlassen. Das Lutschhabit war abgestellt und die Myofunktionen waren normalisiert, die Gebisssituation weiter verbessert. Nach Ende des Zahnwechsels kam die Patientin, 14,1 Jahre alt, wie vereinbart nochmals zur Kontrolle der Okklusion. Zu diesem Termin waren wir uns einvernehmlich einig, die geplante Multibracketbehandlung vorläufig nicht durchzuführen. Die Patientin war mit ihrer Zahnstellung zufrieden und für mich war die Mundhygienesituation eine Kontraindikation.
Zu diesem vierten Termin entließ ich die Patientin ohne Zahnspange, aber nicht ohne ausführliche Mundhygieneinstruktionen. Natürlich kann man nicht erwarten, dass alle ähnlichen Fälle ebenso erfolgreich gelingen. Aber ohne prophylaktische und therapiebegleitende Maßnahmen wird man jene Patienten nicht herausfiltern können, die davon profitieren.

MR Dr. Doris Haberler
niedergelassene Kiefer-
orthopädin in Wien
office@dr-haberler.at


Bilderserie zum Fallbeispiel:

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