Fallbericht: Kieferorthopädie in der Praxis

In den vergangenen zwei Jahrzehnten ist der Anteil von Erwachsenen, die eine kieferorthopädische Behandlung nachfragen, stark gestiegen. Hierbei handelt es sich häufig um Personen, die bei Jugendlichen in ihrem Umfeld die hervorragenden Ergebnisse  nach   kieferorthopädischen Therapien beobachten konnten. 

Die Gründe für das Interesse an Kieferorthopädie auch bei Erwachsenen sind nicht nur gestiegene ästhetische Ansprüche, sondern auch der Wunsch der Patienten nach optimalen, prothetischen Versorgungen und festsitzendem Zahnersatz, und das kann in vielen Fällen besser gelöst werden, wenn auch kieferorthopädische Maßnahmen durchgeführt werden.
Gleichzeitig ermöglichen neue und verbesserte Apparaturen, die im Alltag wenig beeinträchtigen und ästhetisch nicht störend sind, wirksame Mechaniken zur gezielten Zahnbewegung.
Diese an sich erfreuliche Entwicklung konfrontiert uns Kieferorthopäden aber mit  Situationen, wie wir sie in der Regel bei unseren jungen Patienten nicht kennen. Wenn ein Allgemeinzahnarzt einem Kieferorthopäden Kinder oder Jugendliche zuweist, überlässt er diesem gleichzeitig die Planung und die Therapie und nimmt keinen Einfluss auf das Behandlungsergebnis.
Im Gegensatz dazu benötigen Erwachsene zur Sanierung des Gebisses – in Abhängigkeit vom Problem – Spezialisten verschiedener Teilgebiete der Zahnheilkunde, wie z. B. der Prothetik, der Parodontologie und der Kieferchirurgie. Der  Kieferorthopäde wird so gesehen hier zum Teil eines Teams. Ein Netzwerk von Spezialisten kann zwar qualitativ hochwertiger und umfassender behandeln als ein Einzelner, der vielleicht sogar seine Kompetenz überschreitet,  aber diese Aufteilung der professionellen Verantwortung macht das Vorgehen für die beteiligten Ärzte komplizierter. Stimmt die Zusammenarbeit innerhalb des Teams nicht, oder ist die Behandlungsabfolge nicht klar, kann es zu Missverständnissen kommen, und das Ergebnis der Gesamtbehandlung ist gefährdet. Aus diesem Grund muss es bei jeder interdisziplinären Zusammenarbeit einen Hauptbehandler geben. Als Hauptbehandler ist jener Therapeut definiert, der eine aktive Rolle bei der Erstellung des gesamten Behandlungsplanes spielt,  wesentliche Teile der Behandlung durchführt und der auch für das Ergebnis  eigenständig verantwortlich zeichnet. In diesem Sinne kann beispielsweise ein Kieferchirurg, der im Auftrag bei einem überwiesenen Patienten vier Praemolaren extrahiert, nicht als Hauptbehandler gelten. Schließlich ist er nicht in die Behandlungsplanung involviert, sondern führt nur therapeutische Maßnahmen in seinem Spezialgebiet durch. Wenn derselbe Kieferchirurg bei einem Patienten selbstständig   diagnostiziert, plant und einen chirurgischen Eingriff durchführt, wird er zum Hauptbehandler. Genauso ist ein Prothetiker als Hauptbehandler  anzusehen, wenn er einem Kieferorthopäden zum Aufrichten eines gekippten Brückenpfeilers zuweist.
Sind bei interdisziplinär zu behandelnden Erwachsenen die diagnostischen Überlegungen komplex, spielt der Kieferorthopäde hier die Schlüsselrolle. Damit die richtigen Entscheidungen getroffen werden, untersucht er das gesamte stomatognathe System inklusive der Kiefergelenke, beachtet den Zustand des Parodonts und diagnostiziert okklusale Störungen und skelettale Probleme. Er entscheidet über die Notwendigkeit von möglichen Zahnbewegungen, über Extraktion oder Nichtextraktion und bestimmt, ob skelettale Abweichungen noch dental kaschiert werden können, oder ob ein kieferchirurgischer Eingriff erforderlich ist. Er bespricht die einzelnen therapeutischen Maßnahmen und das individuelle Behandlungsziel mit allen beteiligten Spezialisten und mit dem Patienten, kümmert sich um die Einverständniserklärung und fixiert alles schriftlich. Weil er unter allen an der Behandlung Beteiligten den besten Überblick hat, liegt auch die Verantwortung für die Koordination der interdisziplinären Behandlungsschritte beim Kieferorthopäden. Schließlich ermöglicht das hochwertige Versorgungen selbst bei schwerwiegenden Gebissschäden. Die  Vorteile für den Patienten sind eine qualitativ bessere Behandlung und verbesserte  Therapieresultate.

Fallbeispiel

Mein Fallbeispiel, ein 33 Jahre alter Mann, war der Bruder einer meiner Patientinnen. Sein Problem war sofort sichtbar. Beide oberen Eckzähne waren verlagert und palatinal im Kreuzbiss durchgebrochen.
„Wegen meiner Zahnstellung entsteht der Eindruck, dass ich im Oberkiefer unversorgte Lücken habe. Ich lache deshalb nicht mehr. Außerdem vermute ich, dass die fehlstehenden Eckzähne beim Kauen stören, was mir Verspannungen im Hals-Nackenbereich verursacht. Ich hätte diese Zähne deshalb gerne entfernen lassen und für die  Lücken einen Zahnersatz. Mein Zahnarzt meint aber, dass für eine prothetische Versorgung die Platzverhältnisse nicht ausreichend sind!“, erklärte er sein Anliegen. „Ich bin bereit, eine festsitzende Zahnspange zu tragen, wenn das dazu beiträgt, dieses Problem zu lösen.“
Anhand der kieferorthopädischen Analyse, zu der ich geraten hatte, zeigten sich von der Fehlstellung der oberen Eckzähne abgesehen weitere gravierende  Probleme, die dem Patienten selbst  bislang  gar nicht bewusst waren. Offensichtlich waren die vier ersten Molaren frühzeitig entfernt worden, und es war zu einem spontanen Lückenschluss gekommen.  Dabei konnten im Oberkiefer die zweiten und dritten Molaren annähernd körperlich nach mesial aufwandern, der  Raum für die unteren Sechser war teils von den Zähnen mesial und teils von distal durch den Siebener geschlossen, wobei dieser auch stark gekippt war. Weil die Weisheitszähne im Unterkiefer fehlten, hatte der letzte obere Molar keinen Antagonisten.
In meinem Behandlungsplan war eine kieferorthopädische Behandlung mit Einreihung der verlagerten Eckzähne die erste Wahl. Gleichzeitig wollte ich im Unterkiefer die Sechserlücke durch Mesialisation der anterioren Zähne und Distalisation und Aufrichtung der Siebener wieder öffnen. Diese Maßnahmen korrigieren mit einfachen Mechaniken in einer angemessenen Zeitspanne die „Zahn-zu-Zahn-Beziehung“ der Eckzähne und die oberen Weisheitszähne erhalten mit den nach distal aufgerichteten Siebenern Antagonistenkontakte.
Für die Lücken im Unterkiefer wäre anschließend eine prothetische Versorgung erforderlich. Als Alternative war auch ein aufwändiges, ausschließlich orthodontisches Mesialisieren aller  unteren Zähnen mit skelettaler Verankerung, und die Entfernung der oberen Achter zur Diskussion.
Mein Patient entschied sich für den empfohlenen ersten Behandlungsvorschlag, nachdem ihn auch die anderen beteiligten Ärzten zu ihren Teilbereichen ausführlich beraten hatten, und er über Art und Reihenfolge der Maßnahmen über die Gesamtbehandlungszeit sowie über die Gesamtkosten Klarheit hatte. Ein zufriedener Patient nahm sich leider nicht mehr die Zeit für Abschlussfotos nach Eingliederung der Kronen.

Prim.a Dr. Doris Haberler

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