Fallbericht: Kieferorthopädie in der Praxis

Die Eruption von Zähnen aus der Zahnleiste im Kiefer an die regelrechte okklusale Position in der Mundhöhle kann durch eine Reihe lokaler und systemischer Faktoren gestört sein. Eine Therapie erfordert bei einem Großteil der Patienten auch umfangreiche kieferorthopädische Maßnahmen.

Der Wechsel vom Milchgebiss zum bleibenden Gebiss beginnt mit sechs Jahren und endet mit der Einstellung der zweiten Molaren in die Okklusion im Alter von 12 bis 14 Jahren. Er erfolgt in zwei Phasen - dem frühen und dem späten Wechselgebiss und einer Pause zwischen diesen beiden Phasen. Die Mechanismen, die in dieser Zeit jeweils die Wachstumsvorgänge und den Durchbruchprozess der bleibenden Zähne steuern, sind komplex und nicht vollständig bekannt.

Neben der eher selten vorkommenden PFE (primary failure of eruption) sind mögliche Ursachen, die dazu führen, dass bei klinisch gesunden Patienten einzelne Zähne verspätet, unvollständig oder gar nicht durchbrechen können, lokale  Störungen, wie Platzmangel wegen eines Missverhältnisses zwischen Zahn- und Kiefergröße oder wegen des frühzeitigen Verlustes von Milchzähnen durch Trauma oder Karies, die Behinderung des Durchbruchs  wegen überzähliger Zahnanlagen oder Zysten, die Verlagerung und die Ankylose. Ist die Eruption eines einzelnen Zahnes ohne sichtbaren Grund stark verzögert, bezeichnet man das dann als idiopathische Durchbruchstörung.

Die Behandlung solcher Probleme erfordert individuelle Lösungen und fast immer ein interdisziplinäres Vorgehen. Die Kieferorthopädie muss entscheiden, ob ein betroffener Zahn eingeordnet werden kann oder entfernt werden soll, und parallel zur kieferorthopädischen Behandlung sind in Abhängigkeit vom Behandlungsplan chirurgische Maßnahmen wie Extraktionen, Freilegungen und das Entfernen von  Durchbruchshindernissen nötig.

Fallbericht
Bei meiner 12,5-jährigen Patientin hatten Platzmangel sowie eine idiopathische  Entwicklungshemmung von 45 zur Durchbruchstörung bei den Zähnen 45, 34 und 35 geführt. Sie kam zu einem Erstgespräch in meine Ordination weil sie wissen wollte, wann sie mit dem Durchbruch der noch immer nicht sichtbaren Praemolaren im Unterkieferzahnbogen rechnen konnte (Abb. 1a, b, c). Ein Hauptanliegen war auch die Einordnung ihrer bukkal durchgebrochenen oberen Dreier aus ästhetischen Gründen. „Meiner  Tochter mussten die unteren Milchmolaren im Alter von fünf Jahren vorzeitig entfernt werden", berichtete die ebenfalls anwesende Mutter. „Seit dieser Zeit hat sie, um einen Platzverlust in den Stützzonen zu verhindern und gleichzeitig auch den in beiden Kiefern generell vorliegenden Raummangel zu behandeln, Dehnplatten im Oberkiefer und im Unterkiefer getragen."
Wie meine aktuell angefertigten diagnostischen Unterlagen zeigen, waren die angewendeten Maßnahmen aber nicht geeignet, die Probleme dieses Falles zu lösen. Trotz der jahrelangen Behandlung mit Expansionsplatten waren im Oberkiefer die zuletzt durchgebrochenen Eckzähne aus Platzgründen buccal stehend. Im Unterkiefer hatten der Raummangel und die in Richtung einer Klasse-III-Verzahnung nach mesial gewanderten unteren Sechser den Platz für die unteren Praemolaren eingeengt und somit einen zeitgerechten regelrechten Durchbruch der Zähne 45, 34 und 35 verhindert.
Das angefertigte Panoramaröntgenbild zeigt die ungünstigen Platzverhältnisse noch deutlicher. Links steckten die unteren Praemolaren verkeilt zwischen dem Eckzahn und dem Molaren und behinderten sich auch noch gegenseitig am Durchbruch. Auf der rechten Seite fehlte der Platz für den Zahn 45 fast vollständig, und zusätzlich war seine Wurzel  im Vergleich zum Zahn der Gegenseite kaum entwickelt (Abb. 2).

Abb. 1-2: Zum Vergrößern anklicken

„Ihre Tochter sollte die Dehnplattentherapie abbrechen", informierte ich die Mutter nach der Auswertung der Unterlagen über meinen Behandlungsplan. „Um ausreichend Platz für alle Zähne zu gewinnen, ist es nötig,  in jedem Quadranten jeweils einen bleibenden Zahn zu entfernen."
Ich entschied mich für die  Extraktion von 14 und 24 im Oberkiefer und von 36 und 44 im Unterkiefer. Erfahrungsgemäß würden dann die Zähne 34 und 35 und auch der Zahn 45 durchbrechen können.  Die operative Entfernung von jeweils einem retinierten unteren Praemolaren als Alternative wäre für die Patientin ein wesentlich traumatischerer Eingriff mit dem zusätzlichen Risiko von Alveolarknochenverlust und Schädigung der benachbarten Zahnwurzeln. Den  linken ersten Molaren wählte ich, weil er wegen einer Karies profundissima am wenigsten erhaltungswürdig war.
Nach der Platzbeschaffung durch Extraktion stellten sich in der anschließenden  Behandlungspause von acht Monaten die Dreier in den oberen Zahnbogen ein und die Lücken schlossen sich nahezu vollständig. Auch die retinierten Praemolaren links unten  konnten spontan in die Mundhöhle durchbrechen (Bild 3a, b, c und Bild 4).

Abb. 3-4: Zum Vergrößern anklicken

Eine  notwendige Multibracketbehandlung nach Durchbruch von 34 und 35 beendete ich auf Wunsch der Patientin nach 22 Monaten (Bild 5a, b und c).
Auf den vollständigen Durchbruch des Zahnes 45 mussten wir allerdings noch zwei weitere Jahre warten (Bild 6a, b, c).

Abb. 5 - 6: Zum Vergrößern anklicken

Die Einstellung des Zahnes 45 in die funktionelle Okklusion ist mittlerweile erfolgt. Damit war die Behandlung schließlich zur Zufriedenheit der Patientin abgeschlossen.

Prima Dr. Doris Haberler