Kieferorthopädie in der Praxis

Als „verlagerten Zahn" bezeichnet man einen Zahn, der nicht an seinem richtigen Platz im Kiefer steht. Da in der allgemeinen Praxis der Eckzahn von dieser Fehlstellung am häufigsten betroffen ist, findet man Anleitungen für das konkrete Vorgehen zur kieferorthopädischen Einordnung von verlagerten Zähnen am häufigsten am Beispiel des Eckzahnes. Was ist aber zu tun, wenn ein seitlicher Schneidezahn verlagert ist?

Dazu möchte ich als Fallbeispiel einen 9-jährigen Patienten vorstellen, der mit seiner besorgten Mutter in meine Praxis kam. Sie berichtete, dass sie beim Durchbruch der oberen bleibenden Einser beobachtet hatte, wie sich der linke Schneidezahn anders als der rechte weiter buccal einstellte. Da ein angefertigtes Panoramaröntgenbild zwar einen ausgeprägten Engstand im Oberkiefer, ansonsten aber keine weiteren Auffälligkeiten zeigte, sah die Hauszahnärztin vorerst keinen Handlungsbedarf.

Als aber ein Jahr später genau hinter dem linken Einser ein weiterer Zahn sichtbar wurde, schickte sie den Patienten zur kieferorthopädischen Beratung in meine Ordination.

Ich fragte die Mutter nach Spaltbildungen oder einem Trauma im Bereich des Zwischenkiefers als mögliche Ursache für den verlagerten Zahn. Nachdem sie beides verneinte, musste ich annehmen, dass primär der starke Raummangel an der Fehlstellung von 22 mitschuldig war.

„Wenn du schöne, gerade Frontzähne haben möchtest, benötigst du eine fixe Zahnspange. Ein abnehmbares Gerät ist nicht in der Lage, den seitlichen Schneidezahn über eine so lange Strecke in seine richtige Position zu bewegen. Allerdings bist du für den Beginn der Behandlung noch zu jung." Diese Informationen waren für meinen jungen Patienten ausreichend.

Schwieriger war es, die Mutter von meinem Behandlungsplan zu überzeugen. „Ich habe gedacht, das Problem lässt sich mit einer abnehmbaren Spange, wie sie auch andere Kinder in diesem Alter tragen, lösen" meinte die Mutter.

„Ihr Sohn hatte nicht nur die Fehlstellung in der Front, wegen der dentalen Klasse II-Verzahnung im Molarenbereich ist entweder ein Distalisieren der Sechser oder eine Praemolarenextraktion erforderlich „erklärte ich der Mutter und riet zur Extraktionstherapie mit folgendem Vorgehen: „Wegen der engen Lagebeziehung der Wurzel des linken Zweiers zum hoch liegenden Eckzahnkeim besteht die Gefahr der Wurzelresorption, wenn der Schneidezahn jetzt schon nach lateral und buccal bewegt wird. Wir sollten daher mit dem Beginn einer kieferorthopädischen Behandlung zuwarten, bis die Vierer durchgebrochen sind. Und erst wenn diese entfernt sind, können die Eckzähne Platz bekommen und sich nach okklusal entwickeln."

Ich war nicht sicher, ob sich die Eltern für diesen Therapievorschlag entscheiden würden. Sie kamen aber, wie vereinbart nach dem Durchbruch und der Extraktion beider oberen Vierer und ich starteet mit der kieferorthopädischen Behandlung.

Zuerst klebte ich Brackets an den Frontzähnen, den noch vorhanden Milchfünfern und den Sechsern im Oberkiefer und zog den linken Zweier mit einer elastischen Schnur zu einem Nivellierungsbogen nach lateral. Während des Durchbruchs der Eckzähne und des Fünfers war nur in der Front ein hochelastischer Segmentbogen eingebunden.

Um die Wurzel des verlagerten Zweiers möglichst weit nach buccal aufrichten zu können, hatte das an diesem Zahn geklebte Bracket eine geringere Slotdimension und war um 180° gedreht. Nach einer Gesamtbehandlungsdauer von zwei Jahren und drei Monaten entfernte ich die Brackets.

Obwohl ich mir große Mühe gegeben hatte die Zweierwurzel aufzurichten, ist mir das schließlich nicht vollständig gelungen. Davon abgesehen kann man das Ergebnis als zufriedenstellend bezeichen.

Primaria Dr. Doris Haberler