Kieferorthopädie in der Praxis

Verletzungen im Gesicht mit Beteiligung von Zähnen sind nicht nur ein Thema in der zahnärztlichen Ambulanz sondern auch in der kieferorthopädischen Praxis. Zur Risikogruppe zählen primär Kinder und Jugendliche mit protrudierten oberen Frontzähnen, besonders wenn die Incisalkanten über die Nasen-Kinn-Linie reichen. Prinzipiell sind jedoch alle kieferorthopädischen Patienten, die Aktivitäten und Sportarten mit erhöhter Verletzungsgefahr ausüben, zahntraumagefährdet.

Ich möchte als Fallbeispiel von meinem damals 16-jährigen Patienten berichten, der gegen Ende seiner Multibracketbehandlung beim Kitesurfen sein Knie mit voller Wucht gegen die Frontzähne schlug.  

Abb.1: : Die kieferorthopädische
Behandlung war nötig, da der
rechte obere Eckzahn retiniert
und palatinal verlagert war.

Die letzte Kontrollordination vor dem Unfall war an einem Mittwoch vor einem Feiertag. Die Wettervorhersage versprach viel Sonne und guten Wind. Mein Patient verließ die Praxis bestens gelaunt. „Ich habe eine verlängertes, schulfreies Wochenende und fahre an den Neusiedler See surfen", erzählte er beim Hinausgehen.

Aber schon am nächsten Tag erhielt ich einen Anruf der Mutter: „Mein Sohn hat sich bei einem Sportunfall im Mund verletzt. Dabei ist die Zahnspange gebrochen, die Zähne haben sich verschoben und stören beim Zubeissen!"  

Abb. 2 und 3: Zahnröntgen-
aufnahmen von den Front-
zähnen unmittelbar nach
dem Unfall.

Weiters berichtete sie, dass der Notarzt in der Unfallambulanz, die mein Patient aus diesem Grund am Feiertag aufgesucht hatte, lediglich Röntgenbilder von den Frontzähnen anfertigte und ihn mit dem Hinweis entließ, den Mund mit einem Desinfektionsmittel zu spülen und so rasch wie möglich einen Zahnarzt aufzusuchen.

Als behandelnde Kieferorthopädin interessierte mich natürlich sehr, welcher Schaden durch den Unfall an der Multibracketapparatur bzw. an den Zähnen entstanden war. Ich bestellte den Patienten trotz des Feiertags in meine Ordination und konnte die akute Situation und die mitgebrachten Röntgenbilder beurteilen.  

Abb. 4 und 5: An den letzten
Molaren klebte ich Aufbisse aus
Zement, damit Zahnkontakte des
rechten Einsers mit den trauma-
tisch gelockerten unteren
Zähnen nicht mehr möglich waren.

Durch die Wucht, mit der der Patient sein Knie gegen die Lippen geschlagen hatte, hatten sich die Stahldrähte aus den Frontzahnbrackets gelöst und waren verbogen. Die Backets waren teils beschädigt, teils fehlten sie vollständig. Alle betroffenen Zähne im Unterkiefer waren locker. Im Oberkiefer war der Zahn 11 nach palatinal verschoben, nach apical intrudiert und er störte im Schlußbiss.

In dieser Sitzung entfernte ich vorsichtig die störenden Stahldrähte und ersetzte sie durch superelastische Nitinolbögen. An den letzten Molaren klebte ich Aufbisse aus Zement. Somit waren Zahnkontakte des rechten Einsers mit den traumatisch gelockerten unteren Zähne nicht mehr möglich.

Abb. 6 und 7: In der nächsten
Sitzung klebte ich die
fehlenden Brackets neu.

Die Bisssperre und die Schienung mit dem kieferorthopädischen Draht bewirkten, dass sich der Patient sofort wohler fühlte.  Mit der Bemerkung: „Du wolltest diese Zahnspange nicht haben. Jetzt ist sie aber nötig , um deinen Einser wieder in die korrekte Position zu bewegen. Möglicherweise hat sie aber deine Zähne auch vor einem größeren Schaden geschützt!" versuchte ich der Situation einen positiven Aspekt abzugewinnen. Dabei war ich keineswegs sicher, ob die Einordung des Zahnes 11 gelingen kann. In der nächsten Sitzung klebte ich die fehlenden Brackets neu. Die weiteren nötigen Zahnbewegungen waren glücklicherweise mit einfachen kieferorthopädsichen Maßnahmen möglich, und ich konnte die Behandlung zu einem zufriedenstellenden Ende führen. Nach Informationen vom Zahnarzt benötigte keiner der Zähne eine Wurzelbehandlung.

Primaria Dr. Doris Haberler

Abb. 8: Gutes Ende ? es war
keine Wurzelbehandlung
notwendig.