Eine forensische Denksportaufgabe/Teil 2

Die Verantwortung für Zahnextraktionen laut Überweisungsschein

Eine kurze Rekapitulation der Vorgeschichte: Eine 25-jährige Patientin erhält von ihrem Kieferorthopäden Dr. Kiefort einen Überweisungsschein mit der Bitte um Extraktion aller ersten Prämolaren, denn sie leidet unter geringfügigen Zahnfehlstellungen wegen mäßigen Platzmangels. Fast gleichzeitig erhält sie danach auch von ihrem Zahnarzt Dr. Allrount einen Überweisungsschein mit der Bitte um Entfernung ihrer Weisheitszähne wegen rezidivierender Dentitio diffizilis. Er wusste jedoch von der geplanten Opferung aller ersten Prämolaren aus kieferorthopädischen Gründen. Die Durchbruchsbehinderung der Weisheitszähne war - gleichermaßen wie die Zahnfehlstellungen - eine Folge des mäßigen Platzmangels. Die ihr aufgetragene Entfernung von acht Zähnen möchte Julia Engstant nur in Narkose hinter sich bringen und wendet sich an den Kieferchirurgen Dr.Kiechirg. Sie überreicht ihm die beiden Überweisungsscheine.

Dr. Kiechirg kommt dieses Anliegen (acht Zähne auf einmal entfernen) aufgrund lobenswerten forensischen Instinktes nicht ganz geheuer vor. Er hat weder in seiner zahnärztlichen Universitätsausbildung noch später im Rahmen der beruflichen Fort- und Weiterbildung je davon gehört, dass man wegen eines mäßigen Platzmangels heutzutage gleich acht Zähne entfernen müsse. Es ist ihm bewusst, dass ihn die beiden Unterschriften auf den Überweisungsscheinen nicht seiner Sorgfaltspflicht entheben würden, zu überprüfen, ob die Indikation(en) für die von ihm erbetenen Maßnahmen lege artis sein können. Er weiß, dass das Niveau dieser Überprüfung durch das zahnärztliche Grundwissen definiert wird (siehe Teil 1 dieses Beitrags, ZMT 3/11).

Auf der anderen Seite beschränken sich seine Kenntnisse aus dem Spezialfach Kieferorthopädie auf das zahnärztliche Grundwissen (und dies ist forensisch auch nicht zu tadeln und „genug"), er möchte sich nicht als kompetenter darstellen als die überweisenden Kollegen, und er möchte sie nicht vergrämen durch die Ablehnung ihrer Indikationen und Behandlungsvorhaben.

Aber, ohne es mit kollegialer Höflichkeit behutsamer zu formulieren: Dr. Kiechirg täte sogar recht daran, die Indikationen und Behandlungsvorhaben der überweisenden Kollegen zu tadeln: Sie sind nämlich forensisch unbedacht und äußerst bedenklich. Daher ist Dr. Kiechirg dringend folgendes Vorgehen zu raten:

Zuerst sollte er der Patientin eine Frage stellen: Wussten beide Überweiser vom „Gesamtplan der Patientin" (Entfernung aller acht Zähne auf einmal) und identifizieren sich beide mit diesem „Gesamtplan"?

Da dies nicht der Fall war: Frage A an Dr. Kiefort: Bestünde die Indikation zur Extraktion der Vierer auch dann, wenn zeitlich vorrangig die Patientin die Befreiung von ihren Dentitio-diffizilis-Beschwerden wünscht und wenn möglicherweise dadurch eine kieferorthopädische Platzbeschaffung mittels Distalisierung der Seitenzähne denkbar wäre?

Frage B an Dr. Kiefort: Bestünde die Indikation zur operativen Weisheitszahnentfernung auch nach und somit trotz Entfernung aller Vierer und anschließender Zahnbogenkontraktion, welche zu einer verbesserten Durchbruchschance für die Achter führen würde?

a) Wenn sich herausstellt, dass Dr. Kiefort tatsächlich die Indikation für die Entfernung aller acht Zähne als gegeben ansieht und (schriftlich!) verantwortet (es könnte sich ja ausnahmsweise um einen Extremfall gehandelt haben), dann ist Dr. Kiefort vorzuwerfen, warum dies nicht schon auf seinem Überweisungsschein so steht. Er hätte seine Patientin unnötig den Gefahren der zweimaligen Narkose ausgesetzt.

b) Wenn sich herausstellt, dass Dr. Kiefort im Falle der vorgezogenen operativen Entfernung der Weisheitszähne auf die Opferung der vier Prämolaren hätte verzichten können (da er über entsprechende biomechanische Möglichkeiten und beispielsweise über die moderne Implantatschrauben-Technologie verfügt), so ist ihm vorzuwerfen, dass er an diese Behandlungsoption entweder nicht gedacht oder die Patientin nicht darüber aufgeklärt hat. Denn die Diagnose und das Wissen über die verschiedenen therapeutischen Konsequenzen einer Dentitio diffizilis liegen zweifellos im Bereich des zahnärztlichen Grundwissens und sind auch von Dr. Kiefort zu fordern.

c) Wenn sich herausstellt, dass Dr. Kiefort sehr wohl daran gedacht hat, dass nach der Opferung der Prämolaren und dem nachfolgenden kieferorthopädischen Lückenschluss die Weisheitszähne eine wesentlich bessere Durchbruchschance gehabt hätten - immerhin ist die Patientin erst 25 Jahre alt -, dann hätte er auch darüber die Patientin aufklären müssen, und diese wäre nicht auf die Idee gekommen, sich in ein und derselben Narkose gleich alle acht Zähne entfernen zu lassen. Und sie hätte sich nicht den Risken ausgesetzt, die nun einmal mit der Entfernung von Weisheitszähnen verbunden sind.

Alle drei denkbaren Konstellationen a), b) und c) führen zum Schluss: Dr. Kiefort machte einen forensischen Fehler, da kieferorthopädische Behandlungspläne/Behandlungen bei erwachsenen Patienten die Weisheitszähne miteinbeziehen müssen! Und darüber sind die Patienten aufzuklären.

Da nur Dr. Kiefort fachlich kompetent ist, die Fragen A und B zu beantworten, sollte er dies schon im Rahmen seiner Behandlungsplanung und -aufklärung getan haben. Dadurch hätte er eine fehlerhafte - weil unnötige - Behandlung der Patientin vermeiden können, wenn Dr. Kiechirg nicht rückgefragt, sondern laut Überweisungsscheinen extrahiert hätte. Dr. Kiefort würde daher solidarisch mithaften.

Aber auch Dr. Allrount kommt nicht ungeschoren davon. Denn es ist gleichermaßen zu rügen, dass Dr. Allrount seinerseits mit Dr. Kiefort nicht Kontakt aufgenommen und die Fragen A und B nicht schon selbst gestellt hat. Auch Dr. Allrount würde solidarisch mithaften, denn die Gesamtsituation liegt durchaus im Bereich des zahnärztlichen Grundwissens, welches auch von ihm zu fordern ist. Für ihn gelten dieselben Überlegungen, die weiter oben für Dr. Kiefort angeführt wurden. Die von Dr. Allrount festgestellte Indikation für die Entfernung der Weisheitszähne hätte er im Zusammenhang mit der ihm bekannt gewesenen kieferorthopädischen Indikation zur Opferung der vier Prämolaren sehen und daher hinterfragen müssen. Dr. Allrount hatte ja von der im Raume stehenden vermutlich unnötigen Entfernung von acht Zähnen gewusst, ja diese sogar veranlasst, ohne die Patientin diesbezüglich zu „warnen", sprich aufzuklären.

Welcher der drei Ärzte haftet nun dafür (am meisten), wenn es zur Entfernung von acht Zähnen und gar zu Problemen dabei gekommen wäre?

Eine verbindliche Antwort darauf gibt es zurzeit nicht, da eine solche Konstellation noch nicht vor den Obersten Gerichtshof gekommen ist. Der Autor dieser Zeilen brachte in Erfahrung, dass eine Klage gegen alle drei Ärzte im Sinne der oben geschilderten solidarischen Haftung realistische Chancen auf Erfolg haben könnte. Das Judikat würde sich allerdings sehr wesentlich auf die Auffassung des Gerichtssachverständigen über den Umfang des zahnärztlichen Grundwissens stützen. Mit einfacheren Worten: Der Sachverständige muss sich verbindlich dazu äußern, welche Kenntnistiefe jeder Zahnarzt in den (anderen) zahnärztlichen Spezialfächern besitzen sollte, und wie weit er aufgrund dieser Kenntnisse mitzudenken und fallweise sogar korrigierend einzugreifen imstande sein sollte, um seiner Sorgfaltspflicht zu genügen.

Prof. DDr. Martin Richter

Ankündigung

Forensik-Intensivseminar ZMK

Bedrohung durch behauptete Aufklärungsmängel und angebliche Behandlungsfehler? Vorbeugung und Gegenwehr

Salzburg, Freitag, 13. Mai 2011

Forensik-Spezialseminar KFO - Aus Fällen lernen

Das fachspezifische Forensik-Know-how für kieferorthopädische Behandlungen
Die wesentlichen Ergebnissen der gesamten vorangegangenen KFO-Spezial-Seminarreihe

Salzburg, Samstag, 14. Mai 2011

Die beiden Seminare können getrennt belegt werden.
Seminarleiter: Universitätsprofessor Dr. Dr. Martin Richter

Fordern Sie die Detailinformationen per E-Mail an: dr.martin.richter@aon.at