Eine forensische Denksportaufgabe/Teil 1

Verantwortung für Zahnextraktionen laut Überweisung

Julia Engstant, 25-jährige Studentin und Tochter eines namhaften Rechtsanwaltes, wünscht sich ein strahlendes Hollywood-Lächeln und entschließt sich zu der Zahnregulierung, die ihr vom Kieferorthopäden Dr. Kiefort geraten wird.

Ihr Gebiss weist geringfügige Zahnfehlstellungen wegen mäßigen Platzmangels auf. Im kieferorthopädischen Behandlungsplan ist deswegen und zur Verbesserung der Achsenneigung der Frontzähne die Entfernung aller ersten Prämolaren vorgesehen. Dr. Kiefort überweist die Patientin für die Zahnextraktion an die allgemeinzahnärztliche Ordination von Dr. Allrount, da sie in der Universitätsstadt noch keinen anderen Zahnarzt kennt. Der Text auf dem Überweisungsschein lautet: „Ich bitte Sie um die Extraktion aller 1. Prämolaren im OK und UK (14, 24, 34, 44). Kieferorthopädisch indiziert. Besten Dank! Mit kollegialen Grüßen ..."

Dr. Allrount erkennt im Mund der Patientin ausgeprägte Symptome von Dentitio diffizilis, und die Patientin berichtet auch von erheblichen diesbezüglichen intermittierenden Beschwerden, die sie schon lange quälen und einen Urlaub vergällt haben. Als sich die Patientin nach Abhilfemöglichkeiten erkundigt, empfiehlt Dr. Allrount nachdrücklich die operative Entfernung aller vier Weisheitszähne.

Narkose gewünscht
Der Patientin kommt die Befreiung von ihren Dentitio-diffizilis-Beschwerden sehr wünschenswert und vor dem nächsten Urlaub zeitlich vordringlich vor - die Regulierung kann noch warten. Sie denkt sich aber: Eine operative Weisheitszahnentfernung überstehe ich nur in Narkose! Doch erfährt sie zu ihrem Bedauern, dass Dr. Allrount Operationen in Narkose nicht mehr durchführt. Die Patientin bittet nun um eine Überweisung an die kieferchirurgisch spezialisierte Ordination Dr. Kiechirg zur operativen Weisheitszahnentfernung in Narkose. Von Dr. Allrount erhält sie daraufhin den diesbezüglichen Überweisungsschein.

Mit beiden Überweisungsscheinen in der Handtasche (Dr. Kiefort: „Extraktion aller ersten Prämolaren" sowie Dr. Allrount: „Operative Entfernung aller Weisheitszähne in Narkose") macht sie sich dorthin auf den Weg. Dabei fällt ihr die Möglichkeit ein, die Entfernung von allen acht Zähnen auf einmal in Narkose hinter sich zu bringen und mit diesem Anliegen spricht sie in der Ordination Dr. Kiechirg vor.

Dr. Kiechirg kommt dieses Anliegen - aufgrund lobenswerten forensischen Instinktes - nicht ganz geheuer vor. Er berichtet die Sachlage in seinem Qualitätszirkel und erbittet Ratschläge für sein forensisch richtiges Verhalten. Wie, sehr geschätzte Leserinnen und Leser, würden Sie die (Verteilung der) Verantwortung beurteilen, wenn es tatsächlich zur Extraktion der acht Zähne auf einmal in Narkose gekommen wäre und wenn dabei sogar gravierende Probleme aufgetreten wären? Dieser Fall ist übrigens nicht gestellt, sondern nur anonymisierend geringfügig verfälscht. Immerhin stammte die Patientin nicht aus einer Juristenfamilie.

Die richtigen Antworten lauten:
1) Die beiden Überweisungsscheine entheben Dr. Kiechirg nicht seiner Verantwortung für seine kieferchirurgischen Maßnahmen. Wenn ein Zahnarzt (hier: Dr. Kiechirg) die Indikationsstellung seitens des oder der zuweisenden Kollegen nicht für richtig hält oder wenn er gegen seine Überzeugung extrahieren müsste, sollte er den Eingriff nicht durchführen. Dies gilt vor allem dann, wenn das Wissen hierfür als allgemeinzahnärztliches Basiswissen von jedem Zahnarzt forensisch gefordert werden kann. Der extrahierende Zahnarzt muss jedenfalls die Indikationsstellung im Prinzip mittragen können. Also: Wäre die Indikation prinzipiell falsch oder im Einzelfall nicht vertretbar und wäre dies vom Niveau des zahnärztlichen Grundwissens aus betrachtet erkennbar (gewesen), dann haftet der extrahierende Zahnarzt (zumindest solidarisch) mit. Beispielsweise wäre es nicht indiziert, alle Frontzähne zu extrahieren mit der hoffentlich für alle Zeiten absurd bleibenden kieferorthopädischen Indikationsstellung: „Nur Prothesenzähne verschieben sich sicher nicht". Auch ein schon lange im Berufsleben stehender Zahnarzt muss zum Beispiel etwas von kieferorthopädischen lingualen Kleberetainern gehört haben, mit denen sich Frontzähne dauerhaft stabilisieren lassen.

Wie lässt sich das zahnärztliche Grundwissen definieren? Es liegt auf dem Niveau der aktuellen zahnärztlichen Universitätsausbildung (also ohne Spezialfach-Ausbildung) beziehungsweise der allgemeinzahnärztlichen globalen Fortbildung, etwa angeboten bei den jährlichen Zahnärztekongressen.

2) Nimmt man jeden Überweisungsschein für sich alleine, so bestehen an der Richtigkeit der Indikationen keine Zweifel. Die Entfernung von Weisheitszähnen zur Behandlung einer rezidivierenden Dentitio diffizilis steht außer Frage. Und die Opferung von je einem Prämolaren pro Quadrant ist auch heute noch eine weit verbreitete kieferorthopädische Standardmaßnahme zur Beseitigung von jenem Platzmangel im Gebiss, der einerseits an den Fehlstellungen der Zähne schuld ist und andererseits auch an den Durchbruchsschwierigkeiten der Weisheitszähne. Dr. Kiechirg bräuchte sich daher nicht um die vielfältigen Kriterien zu kümmern, die ein Fachkieferorthopäde abzuwägen und zu verantworten hat, bevor er sich für die Option „Opferung von Zähnen" entscheidet. Dies ginge über das Niveau des zahnärztlichen Grundwissens eindeutig hinaus, und diesbezüglich wäre Dr. Kiechirg durch die Unterschrift von Dr. Kiefort abgesichert.
Aber es muss Dr. Kiechirg stutzig machen, dass zur Beseitigung eines mäßigen Platzmangels (zur Wiederholung: der sowohl für die geringen Zahnfehlstellungen als auch für die Behinderung des Weisheitszahndurchbruchs ursächlich ist) die Entfernung von sogar acht Zähnen indiziert sein solle.

Das passt wohl nur zu einem extremen Ausnahmefall! Und ein solcher ist der Mund von Julia Engstant bei Weitem nicht. Die Unterschriften auf den beiden Überweisungsscheinen entbinden Dr. Kiechirg nicht seiner Sorgfaltspflicht, im Rahmen des (ihm zumutbaren) zahnärztlichen Grundwissens sich mit der Indikation für die von ihm erbetene ärztliche Behandlung zu identifizieren. Wer würde im Streitfall feststellen, ob die geschilderte Situation noch unter das ihm zumutbare zahnärztliche Grundwissen zu rechnen ist? Der vom Gericht bestellte Sachverständige - tja, und da mag es wohl auch unterschiedliche Auffassungen geben.

Zahnärztliches Grundwissen
Um die Grauzonen solcher unterschiedlichen Auffassungen noch weiter herauszuarbeiten: Was wäre, wenn Julia Engstant nur mit einem einzigen Überweisungsschein (für die Extraktion aller acht Zähne) gekommen wäre, ausgestellt von Dr. Kiefort (weil dieser vielleicht ein Anhänger der heute so gut wie verlassenen Begg-Technik geblieben ist: Damals extrahierte man in der Tat manchmal acht Zähne wegen Platzmangels - huch!). Würde auch in dieser Situation ein Sachverständiger dieselbe Auffassung vertreten wie oben geschildert, nämlich: „Es gehört zum zahnärztlichen Grundwissen, dass man wegen mäßigen Platzmangels heutzutage nicht acht Zähne extrahieren muss!" oder überspannt man mit einer solchen Forderung das zumutbare Maß an Kenntnissen aus einem anderen Spezialfach? Tja, das würde wieder der Gerichtssachverständige entscheiden. Der Autor dieser Zeilen würde Dr.Kiechirg jedenfalls erhebliches Misstrauen und zumindest die Nachfrage bei Dr. Kiefort empfehlen, ob dieser nicht irrtümlich zu viele Zähne auf den Überweisungsschein geschrieben hat. Diesbezüglich gibt es nämlich Gerichtsurteile, die Dr. Kiechirg dann (solidarisch mit-)haftbar machen würden, wenn ihm ein bei der Erfüllung seiner Sorgfaltspflicht erkennbarer Schreibirrtum eines Kollegen nicht aufgefallen ist, den man mit dem zahnärztlichen Grundwissen hätte erkennen können - sollen - oder müssen: je nach Wortlaut des Sachverständigengutachtens.

Solidarische Mithaftung aller beteiligten Ärzte
Hoffen wir, dass Dr. Kiechirg mit seinem löblichen forensischen Instinkt erst einmal nicht extrahiert. Aber wie soll er konkret weitermachen? Er möchte wohl auch die überweisenden Kollegen nicht vergraulen, indem er alle Aufträge, die ihm dubios erscheinen, kommentarlos ablehnt oder sich als überlegener Experte für das „lege artis" im Nachbar-Spezialfach „aufspielt".

Die Antwort darauf lesen Sie in der nächsten Ausgabe dieser Zeitschrift. Und Sie lesen noch mehr zu diesem Casus: dass nämlich beide überweisenden Zahnärzte, also Dr. Kiefort und Dr. Allrount, in forensischer Hinsicht bereits gravierende Fehler gemacht haben, was immer auch Dr. Kiechirg tut. Und hätte er alle acht Zähne entfernt und wäre es zu einer Behandlungsfehlerklage gekommen, dann würden auch diese beiden Zahnärzte mit großer Wahrscheinlichkeit zumindest solidarisch mithaften.

Prof. DDr. Martin Richter

Ankündigung Forensik-Intensivseminar ZMK

Bedrohung durch behauptete Aufklärungsmängel und angebliche Behandlungsfehler? Vorbeugung und Gegenwehr

Salzburg, Freitag, 13. Mai 2011

Forensik-Spezialseminar KFO
Aus Fällen lernen
Das fachspezifische Forensik-Know-how für kieferorthopädische Behandlungen
Die wesentlichen Ergebnissen der gesamten vorangegangenen KFO-Spezial-Seminarreihe

Salzburg, Samstag, 14. Mai 2011

Die beiden Seminare können getrennt belegt werden.
Seminarleiter: Universitätsprofessor Dr. Dr. Martin Richter

Fordern Sie die Detailinformationen per E-Mail an: dr.martin.richter@aon.at