Fallbericht: Kieferorthopädie in der Praxis

Die Forensik, für die chirurgischen und prothetischen Bereiche in der Zahnheilkunde ein wichtiges Thema, gewinnt zunehmend auch für den Kieferorthopäden an Bedeutung. Um bei konkreten Anlassfällen rechtliche Probleme zu vermeiden, sind wir heutzutage verpflichtet, jeden Patienten vor einer kieferorthopädischen Behandlung über die Therapiemöglichkeiten mit allen zu erwartenden Vor- und Nachteilen zu informieren, weiters auf alle Risiken und Nebenwirkungen hinzuweisen und die gewählte Behandlung lege artis durchzuführen. Damit wir diesen Anforderungen möglichst gerecht werden, möchte ich in dieser Serie Fälle vorstellen, anhand derer jeweils relevante Fragen diskutiert werden können. Da die Möglichkeit der Wurzelresorptionen, die als Risiko bei jeder kieferorthopädischen Behandlung auftreten können, eine Gefahr darstellt, die besonders gefürchtet ist, möchte ich dazu einen interessanten Fall vorstellen:

Prim. Dr. Doris Haberler
Abb. 1: Der Patient zeigt ein frühes Wechselgebiss mit offenem Biss, Diasthema mediale, Kreuzbiss rechts mit Zwangsbiss und ohne Raummangel. Auch wenn zur Kreuzbissüberstellung häufig zementierte Kappenschienen zur raschen Gaumennahterweiterung empfohlen werden, habe ich eine Behandlung mit einem abnehmbaren funktionskieferorthopädischen Gerät vorgeschlagen.
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Abb. 2: Mit einem EOA Klasse III mit Zungengitter konnte im ersten Behandlungsjahr der obere Zahnbogen ausreichend verbreitert werden, der Zwangsbiss wurde behoben, die Frontzähne eruptierten ungehindert.
Abb. 3: Die Fehlstellung des Zahnes 22 behandelte ich in dieser Phase nicht. „Uggly-duck-Stadium" bezeichnet man die Zeit, in der die seitlichen Schneidezähne mit divergierender Achsenneigung durchbrechen, erklärte ich der Mutter. Bei aktiven Zahnbewegungen kann die hoch neben der Zweierwurzel liegende Eckzahnkrone zu Resorptionen an diesen Wurzeln führen.
Abb. 4: Ein Kontroll-OPTG, das ich zur Sicherheit anfertigte, zeigte dann eine böse Überraschung: Die Wurzelspitze von 22 war vom hoch buccal liegenden Eckzahnkeim stark resorbiert worden, obwohl ich darauf geachtet hatte, dass hier keine kieferorthopädischen Kräfte einwirken.Ausgerechnet bei diesem Fall war das OPTG vom Beginn der Behandlung nicht auffindbar. Es wäre zum Vergleich vorteilhaft gewesen. Was ist in so einer Situation zu tun? Es war mir keine festsitzende Mechanik bekannt, die die hoch im Vestibulum liegende Eckzahnkrone von der Zweierwurzel weg nach buccal bewegen konnte.
Abb. 5: Um den Verlust des Zahnes 22 zu verhindern, versuchte ich es mit einer weiteren abnehmbaren Behandlung. Der Patient musste eine Oberkieferplatte mit einem Wangenschild zum Abhalten der Weichteile tragen. Der Eckzahn wurde operativ freigelegt und mithilfe eines elastischen Gummiringes, den der Patient selbst vom Attachment des Zahnes über eine Pelotte zu einem Haken an der Platte zog, eingeordnet.
Abb. 6: Am Ende dieser etwas ungewöhnlichen Behandlungsmaßnahmen war die Wurzel des Zahnes 22 fast zur Gänze resorbiert, aber Eckzahn und Zweier standen an ihrer richtigen Position.
Abb. 7 und 8: Fünf Jahre später: Eine Implantatversorgung wäre zu diesem Zeitpunkt schon möglich, ist aber noch nicht nötig, weil das Behandlungsergebnis stabil und der Zahn 22 klinisch unauffällig ist.
Was habe ich daraus gelernt?
• Bei Einzelzahnfehlstellungen im Frontzahnbereich sollte vor einer kieferorthopädischen Behandlung immer eine gewissenhafte Beurteilung des Wurzelbereiches anhand von Röntgenaufnahmen erfolgen.
• Verlagerte Eckzähne, die entweder palatinal oder buccal hoch im Vestibulum liegen, führen nicht zwangsläufig zu Resorptionen. Die Entfernung des Milcheckzahnes und des Milchvierers im betroffenen Quadranten zu dem Zeitpunkt, wo die Wurzel des ersten Praemolars zu 2/3 entwickelt ist, beschleunigt aber den Viererdurchbruch und ermöglicht der verlagerten Dreierkrone, nach distal und damit weg von der Zweierwurzel auszuweichen.
Prim. Dr. Doris Haberler