Wiener Kieferorthopädie: Brackets, Drähte, Klebesysteme

Prof. Dr. Hans-Peter Bantleon studierte in Graz. Ab 1987 war er Oberarzt an der Grazer Zahnklinik, 1989 habilitierte er sich, seit 1992 ist er Leiter der Abteilung für Kieferorthopädie an der Wiener Zahnklinik.

Was waren aus Ihrer Sicht die wichtigsten Entwicklungen der letzten Jahre?
BANTLEON: Hier wären zunächst sicher die Entwicklung der superelastischen Drähte und der selbstligierenden Brackets zu nennen. Im Prinzip gab es ja Nickel-Titan-Drähte seit den 70er-Jahren, Burstone stellte Mitte der 80er-Jahren zusammen mit Qin und Morton „Chinese NiTi", Miura wiederum „Japanese NiTi" vor. 1989 kamen schließlich die Kupfer-Nickel-Titan-Drähte auf den Markt. Selbstligierende Brackets stehen uns seit den späten 90er-Jahren zur Verfügung, und man kann sagen, dass Speed-Brackets, InOvation- oder Damon-Brackets die Kieferorthopädie mitrevolutioniert haben. Durch die Kombination von geeignetem Bogenmaterial und weiterentwickelten Brackets mit abgerundeten Kanten und präzise gegossenen Slots kann das Friktionsproblem deutlich reduziert werden. Ungefähr zur gleichen Zeit kamen auch die Gaumenimplantate auf (an sich hatte man bereits in den 70er-Jahren versucht, mittels Tantalpins Zähne zu bewegen). Heute werden Minischrauben zur Verankerung von zahlreichen Herstellern angeboten. Sehr populär ist auch die Sato-Technik geworden. Allerdings denke ich, dass man sie nicht als alleinige Therapiemethode sehen, sondern vielmehr interessante Sato-Elemente in den Behandlungsablauf einbringen sollte. Die Änderung der Okklusionsebene eröffnet uns weitere therapeutische Möglichkeiten, und man kann die Sato-Technik auch mit einer ganz normalen Straight-wire-Apparatur und mit selbstligierenden Brackets kombinieren. Bei einem Lückenschluss in der Front bei Nichtanlage der Seitenzähne kann die kieferorthopädische Behandlung heute eine Alternative zur Implantation darstellen. Zu erwähnen ist auch, dass heute viel mehr Wert auf das Gingivaniveau und die Einstellung der Zähne in ästhetisch richtiger Weise gelegt wird.
Generell kann die moderne Kieferorthopädie heute Patienten jeden Alters, vom Kleinkind bis hin zum Greis behandeln. Interdisziplinäre Zusammenarbeit hat dabei zu deutlichen Fortschritten in ästhetischer und funktioneller Hinsicht geführt.

Wie sehen Ihre Erfahrungen mit der Lingualtechnik aus?
BANTLEON: Die Positionierung der Brackets ist hier präziser und besser reproduzierbar geworden. Mit Invisalign arbeiten wir wenig, jedoch mehr mit Thermoplastschienen. Die Zähne werden in Bewegungsrichtung am Modell ausgeblockt, und mit speziellen Zangen werden Druckpunkte in der Schiene gesetzt. Dies ist eine sehr brauchbare, wesentlich billigere Methode.

Wie ist der aktuelle Wissensstand in der Funktionskieferorthopädie?
BANTLEON: Die Funktionskieferorthopädie sollte dort eingesetzt werden, wo sie Sinn macht, also zum richtigen Zeitpunkt. Wir brauchen Wachstum, da es sich um eine Wachstumssteuerung handelt. Dass zusätzliches Wachstum stimuliert wird, stimmt nicht. Anfangs kommt es zwar zu einer Akzeleration, aber auf längere Sicht gesehen wird kein Wachstum stimuliert. Die Verzahnung wird entkoppelt und normales Wachstum in die richtige Richtung gelenkt. In vielen Fällen ist der Oberkiefer zu schmal und es kommt zu einem Distalbiss; wenn der Unterkiefer nach vorne eingestellt wird, sieht man, dass es im Eckzahn-/Prämolarbereich zu einem Kopf- oder Kreuzbiss kommt. Die Beseitigung dieser transversalen Einengung ist daher sehr wichtig.

Und was sagen Sie zur präventiven Kieferorthopädie und Interzeptivbehandlung?
BANTLEON: Im Sinne der Prävention ist es von großer Bedeutung, Kindern Habits abzugewöhnen und bei vorzeitigem Milchzahnverlust Platzhalter einzusetzen. Milchzahnverluste können die normale Kieferentwicklung stark beeinträchtigen. Einzelzahnfehlstellungen gehören durch eine interzeptive Therapie beseitigt, auch wenn klar ist, dass später die „eigentliche" korrektive Behandlung durchgeführt werden muss.

Wie häufig sind eigentlich bei uns die verschiedenen Gebissasymmetrien?
BANTLEON: In Ostösterreich findet sich bei 35 Prozent der Bevölkerung eine Klasse II/1, in fünf Prozent Klasse II/2 und in drei Prozent eine Klasse III. Im Westen, speziell in schwer zugänglichen Regionen, ist die Klasse III deutlich häufiger; ebenso in Asien. Neben den genetischen Ursachen darf man nicht auf Umwelteinflüsse vergessen, etwa das dauernde Nuckeln an der Flasche oder übermäßiges Daumenlutschen.

Inwieweit unterscheiden sich verschiedene Klebesysteme im Hinblick auf Toxizität und Haftfähigkeit?
BANTLEON: Laut einer Untersuchung, die Prof. Jonke zusammen mit Prof. Schedle durchgeführt hat, ist ein selbstätzender Primer mit lichthärtendem Kleber weniger toxisch (in der Fibroblastenkultur) als der Goldstandard (37%ige Phosphorsäure und Zwei-Komponentenkleber). Auch die Haftfähigkeit war höher. Nach meiner klinischen Erfahrung erreicht man durch Ätzen eine bessere Haftfähigkeit, außer wenn es Probleme durch zu viel Feuchtigkeit gibt. Allerdings ist zu bedenken, dass bei Verwendung eines selbstätzenden Primers viel weniger Schmelz abgetragen wird als beim normalen Ätzen.

Was liegt Ihnen besonders am Herzen liegt?
BANTLEON: Ja, man sollte nie müde werden, zu betonen, wie wichtig in der Kieferorthopädie eine gute Mundhygiene ist. Plaque und Biofilm müssen unter Kontrolle gehalten und eine wöchentliche Fluoridierung mittels Fluorgel muss durchgeführt werden. Weiters sind halbjährlich Mundhygienekontrollen durchzuführen.

Welche Veranstaltungen sind geplant?
BANTLEON: Am 4. und 5. Dezember wird das 5. IVOS stattfinden, wieder in der Akademie der Wissenschaften. An dieser Stelle wird am 18. September auch Prof. Murray Clyde Meikle über biologische Grundlagen der KFO sprechen. Am 6.10. und 7.10. finden Vorträge von Prof. Bengt Ingervall zu den Themen „Aktivator" und „Klasse II/2" an unserer Abteilung statt.


Vielen Dank für das Interview!
Das Gespräch führte Dr. Peter Wallner.

Prof. Dr. Hans-Peter Bantleon