Ein Fallbericht: Anwendung des PowerBar zur (interzeinterzeptiven) Klasse II Korrektur

Das Ziel einer kieferorthopädischen Behandlung sollte immer sein, das bestmögliche Ergebnis, ohne Umwege auf die schonendste Art und Weise zu kreieren.

Da erwiesenermaßen das Kariesrisiko bei festsitzenden Multibracketbehandlungen wegen der erschwerten Mundhygiene steigt (1), ist es zielführend eine kurze Behandlungsdauer mit dieser Behandlungsvariante anzustreben. Dafür können verschiedene Methoden herangezogen werden. Beispielsweise herausnehmbare Klasse II Apparaturen, wie der Twinblock oder die Vorschubdoppelplatte oder diverse Bionatoren (2), aber auch der hier vorgestellte Power Bar.

Fallvorstellung
Die Patientin S.P. stellte sich am 06. Juni 2023 erstmalig auf der kieferorthopädischen Abteilung der Sigmund Freud PrivatUniversität vor. Zu Behandlungsbeginn war die Patientin 11 Jahre und 3 Monate alt. Mit einem deutlich erhöhten Overjet von exakt 10 Millimetern kam sie für eine Reihe verschiedener Klasse II Korrekturen in Frage. Die Patientin wirkte compliant, was sich im Nachhinein auch bewahrheitete, weshalb der Power Bar von American Orthodontics als Behandlungsvariante gewählt wurde: eine direkt anbringbare Apparatur mit Häkchen zur Befestigung von Gummizügen. Am ehesten zu vergleichen ist der Power Bar mit der bekannteren Carriere Motion Appliance. Die Prämisse für ein Gelingen der Behandlung stellt maßgeblich die Mitarbeit, also das Tragen der Gummizüge, dar.

Diagnose und Planungsphase
Die Diagnosestellung erfolgte nach abgeschlossener Fallplanung mittels kieferorthopädischer Planungsunterlagen, bestehend aus einem befundeten Anfangsmodell, der Fernröntgenanalyse und der Auswertung des Fotostatus. Mit einem Overjet von über neun Millimetern lautete die Diagnose IOTN (= Index of Orthodontic Treatment Need) 5a, wobei die Zahl 5 einen sehr großen Behandlungsbedarf kennzeichnet und der Buchstabe a die vergrößerte sagittale Stufe deklariert (3). Zur Behandlung solcher Klasse II Fehlstellungen mit vergrößertem Overjet lassen sich verschiedene Apparaturen verwenden, wie beispielsweise Non-Compliance-Klasse II Apparaturen oder auch festsitzende Zahnspangen, bei denen ab Nutzung von Stahlbögen nach circa einem ¾ Jahr ebenfalls Gummizüge eingehängt werden können sowie auch herausnehmbare Apparaturen (2). Die Vorteile des Power Bar bestehen darin, die Motivation und die damit zusammenhängende Compliance der Patienten bei Behandlungsbeginn zu nutzen, gleichzeitig die Tragedauer der festsitzenden Multibandapparatur zu verkürzen, welche oftmals eine große hygienische Herausforderung für die Patienten darstellt und direkt von Anfang an das Kernproblem zu beheben. Der Power Bar wird immer mit einer passiven Tiefziehfolie im Gegenkiefer angewendet, um eine ungewollte Proklination des Gegenkiefers durch die Gummizüge zu vermeiden. Um die Gummizüge einhängen zu können, muss im Gegenkiefer, in diesem Fall im Unterkiefer, jeweils eine Tube auf den 36er und den 46er geklebt werden. Die Bracketpositionen werden in der retentiven Tiefziehfolie ausgespart.

Behandlungsplan

Der individuell erstellte Behandlungsplan sah vor, zuerst eine interzeptive Korrektur der Klasse II mittels Power Bar und Gummizügen anzustreben und im späteren Verlauf eine Multibracketapparatur zur ästhetischen Ausformung beider Kiefer anzubringen.

Behandlungsverlauf

Zu Beginn muss mit der Auswahl der richtigen Länge des Power Bar mittels Power Bar-Farbkodierungslineal gestartet werden. Die Messung erfolgt von der Mitte des Eckzahns bis zur bukkalen Fissur des ersten Molaren. Zur Anwendung kam ein Power Bar mit blauer Farbe, welcher 26 mm entspricht, beidseits vom Eckzahn bis zum ersten Molaren. Zur adhäsiven Befestigung des Power Bar wird die Säure-Ätz-Technik verwendet, wobei mittels 37%iger Phosphorsäure das Enamelum angeraut und dessen Oberfläche vergrößert wird (4). Danach wird ein Bonding zur Erhöhung des Haftverbundes verwendet, um den Zahn an den zu beklebenden Bukkalflächen der Eck- und ersten Backenzähne zu konditionieren (4). Daraufhin werden die Basen des Power Bars mit einem Komposit benetzt und der Power Bar wird in mittiger Position auf den Kronen der vorgesehenen Zähne platziert. Im Gegenkiefer wurden anschließend die ersten Molaren nach demselben Verfahren mit einer Tube beklebt. Zuletzt erhielt die Patientin die retinierende Tiefziehfolie mit den Aussparungen im bukkalen Bereich der 6er, um dort die Gummizüge einhängen zu können. Beim ersten Monat handelte es sich um die Gewöhnungsphase. Daher wurden, wie nach Angaben des Herstellers, im ersten Monat Gummizüge mit einer Kraft von 6 ½ Unzen verwendet und in den darauffolgenden Monaten stärkere Gummizüge mit einer Kraft von 8 Unzen (5). Die Patientin wurde instruiert die Gummizüge mindestens 22 Stunden am Tag zu tragen und währenddessen stets die Retentionsschiene im Unterkiefer einzusetzen.

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Ergebnisse

Vom Zeitpunkt des Behandlungsbeginns am 17.08.2023 bis zur Abnahme der Apparatur am 17.04.2024 vergingen exakt 8 Monate. Innerhalb dieser Zeit ließen sich Erfolge erzielen, aber auch Nebenwirkungen beobachten. Der Overjet konnte von 10 mm auf 5 mm halbiert werden. Die dentale Klasse konnte auf der rechten Seite von einer vollen Prämolarenbreite (Pb) Klasse II Verzahnung sowohl im Eckzahn- wie auch im Molarenbereich in eine satte Klasse I Verzahnung gebracht werden. Linksseitig konnte ebenfalls eine Verbesserung um eine Pb erzielt werden, wobei die Patientin nach der Behandlung noch in einer ¼ Pb Klasse II im Eckzahn- und im Molarenbereich verblieb. Auch das seitliche Profil erfuhr eine erhebliche Verbesserung, vor allem in Bezug auf die gesteigerte Prominenz der Unterlippe und die verringerte Prominenz der Oberlippe. Die Funktionalität konnte maßgeblich verbessert werden, da die anfänglichen Schwierigkeiten beim Abbeißen beseitigt wurden. Bereits zuvor erwartete Nebenwirkungen waren die gummizugbedingte Extrusion der Eckzähne im Oberkiefer, sowie die Mesialrotation der ersten Molaren im Unterkiefer. Die Mesialrotation kann jedoch durch das Bekleben mit einer Multibandapparatur schnell wieder behoben werden und die Extrusion der oberen Eckzähne war in diesem Fall sogar erwünscht. Die Extrusion der Molaren im Unterkiefer konnte durch das Tragen der Retentionsschiene im Unterkiefer weitestgehend verhindert werden. Eine neue Erkenntnis, die sich auch auf den Abschlussmodellen gut beobachten lässt, war, dass eine Hebelwirkung des Power Bar den ersten Molaren im Oberkiefer beeinflusst. Die gummizugbedingte Kraft der Klasse II Apparatur, hat eine Hebelwirkung von Zahn 3 auf Zahn 6 zur Folge, welche die Extrusion des oberen Eckzahns verursacht und gleichermaßen für eine Intrusion des oberen ersten Molaren sorgt. So führte die Extrusion des 3ers zu einer Intrusion des 6ers durch das Tragen der Gummizüge.

Diskussion

Interessant wäre gewesen, herauszufinden, ob die Compliance bei einer herausnehmbaren Klasse II Apparatur, wie beispielsweise einem Twinblock höher oder geringer ist als beim Power Bar. Die Compliance beim Tragen eines TwinBlocks wurde in einer Studie von Frilund et al. mit durchschnittlich 6,5 Stunden durch einen TheraMon®-Mikrosensor erfasst, wobei die empfohlene Tragedauer bei 12 Stunden lag. Auch dabei konnten mehrere Millimeter Overjetverbesserung erzielt werden (6). Um Erkenntnisse in dieser Hinsicht zu gewinnen, muss weitere Forschung hinsichtlich der Compliance an Carriere-Appliance ähnlichen Apparaturen durchgeführt werden. Har Zion et al. zeigten auf, wie sich ein Twinblock im Vergleich zu einer Carriere Motion Appliance verhält, was die messbaren Ergebnisse am Fernröntgen und am Modell vor und nach der Behandlung anbelangt. Dabei wurde aufgezeigt, dass bei 38 behandelten Patienten beide Apparaturen die Klasse II Fehlstellung korrigieren konnten, jedoch konnte der Twinblock etwas mehr sagittale Korrektur erzielen und auch nur bei der Twinblock-Behandlung waren die Veränderungen bei SNB und ANB signifikant. Dagegen zeigte die Carriere-Appliance signifikant weniger Protrusion der unteren Schneidezähne und signifikant weniger Retrusion der oberen Schneidezähne ohne dabei vertikale Veränderungen mit sich zu ziehen. Der Twinblock zeigte außerdem eine signifikant reduzierte Lippenprotrusion im Vergleich zur Carriere-Appliance. Die Carriere Appliance schafft also hauptsächlich durch dentoalveoläre Veränderungen die Klasse II Korrektur, wohingegen ein Twinblock auch eine Verlängerung der unteren Gesichtshöhe zur Folge hat (7). Auch Kim-Berman et al. haben verschiedene Effekte und Auswirkungen der Carriere Motion Appliance herausgefunden: eine geringe sagittale Beeinflussung des Kinns am Pogonion, eine Verbesserung des Wits-Werts in Richtung Klasse I sowie eine Verbesserung des Overjets und des Overbites (8).

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Conclusio

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Korrektur der Klasse II sehr gut mit der Power Bar Appliance bewerkstelligt werden kann. Im Gegensatz zu herausnehmbaren Apparaturen wie beispielsweise dem Twinblock oder einer Vorschubdoppelplatte, die auch das Kieferwachstum beeinflussen, hat der Power Bar, welcher auf dem Konzept einer Carriere Motion Apparatur basiert, primär dentoalveoläre Auswirkungen auf die Zähne und den Kiefer. Er ist daher gut geeignet, um eine Vorbehandlung zur festsitzenden Multibracketapparatur zu starten, um die Patienten zu einem Zeitpunkt zu erwischen, an dem sie noch motiviert sind, um Gummizüge einzuhängen.

Dr. med. dent. Theresa Kastl,
Zahnklinik der Sigmund
Freud PrivatUniversität, Wien

Literaturverzeichnis:
1.
Chauhan A, Mishra N, Patil D, Shinde Kamble S, Sureshkumar Soni J, Gaikwad SS, u. a. Impact of Orthodontic Treatment on the Incidence of Dental Caries in Adolescents: A Prospective Cohort Study. Cureus. März 2024;16(3):e55898
2.
Sander FG, Schwenzer N, Ehrenfeld M, Ahlers MO, Bantleon HP, Crismani A, u. a., Herausgeber. Kieferorthopädie. 2., neu erstellte und erweiterte Auflage. Stuttgart: Georg Thieme Verlag; 2011. 489 S. (Zahn-Mund-Kiefer-Heilkunde)
3.
Steinhauser G. Der IOTN - Index of orthodontic treatment need. 2015
4.
Jungbauer R, Liebermann A, Kieschnick A, Stawarczyk B. Befestigungsmöglichkeiten von Brackets und Attachments in der Kieferorthopädie. Informationen Aus Orthod Kieferorthopädie. 2020;52(02):129–35
5.
American Orthodontics. Universal Power Bar Class II Appliance. Sheboygan, Wis; S. 10
6.
Frilund E, Sonesson M, Magnusson A. Patient compliance with Twin Block appliance during treatment of Class II malocclusion: a randomized controlled trial on two check-up prescriptions. Eur J Orthod. 31. März 2023;45(2):142–9
7.
Har Zion G, Katzhendler E, Bader Farraj A, Rabin M, Einy S. Evaluating the Effects of Carriere Motion Appliance and Twin Block Appliances in Class II Correction-A Retrospective Study. Dent J. 23. April 2024;12(5):119
8.
Kim-Berman H, McNamara JA, Lints JP, McMullen C, Franchi L. Treatment effects of the Carriere® Motion 3DTM appliance for the correction of Class II malocclusion in adolescents. Angle Orthod. November 2019;89(6):839–46