40 Jahre in einer zahnärztlichen Praxis tätig – ein Blick zurück

Ende Juli 1984 hatte ich in Hohenems, mitten im Vorarlberger Rheintal, meine erste Praxis eröffnet. Damals herrschte ein akuter Mangel in der Versorgung der Bevölkerung, was sich unter anderem dadurch bemerkbar gemacht hatte, dass selbst während der Phase des Einräumens der Verbrauchsmaterialen und der Montage, Erprobung und Funktionsprüfung der Geräte trotz geschlossener Ordination ständig Patienten behandelt werden wollten. Die Unterversorgung hat sich dann in den Folgejahren deutlich entspannt, zumindest vorübergehend, wenn ich die neuere Entwicklung seit einigen Jahren in meiner Betrachtung mit berücksichtige.

Was sich drastisch verändert hat in den vergangenen 40 Jahren, ist das Behandlungsspektrum in der täglichen Praxis. Die abnehmbare Prothetik war ein ständiger Begleiter, nicht planbare Prothesenreparaturen führten speziell nach längeren Wochenenden immer wieder zu Kapazitätsengpässen in den zahntechnischen Labors und in der konservierenden Zahnheilkunde dominierten noch ausgedehnte Amalgamfüllungen den Praxisalltag. Deutlich einfacher wie in den letzten Jahren war aber die Kommunikation mit den Patienten. Die Aufklärung der Patienten beschränkte sich auf Art, Grund und Kosten allfälliger Sanierungen und dem entsprechend erfolgte auch die Dokumentation. Da ich parallel zur Umstellung auf EDV im Jahre 1992 auch noch eine handgeschriebene Kartei verwendet habe (einfach weil ich mich nicht auf ein System verlassen wollte und die EDV in den Anfängen noch wesentlich störanfälliger war wie heute), ist für mich deutlich nachvollziehbar, wie sich Umfang und Tiefe der Aufklärung über Behandlungen, Alternativen und Risiken bis hin zu den verwendeten Materialien drastisch erweitert haben. Diese wesentlich ausführlichere Dokumentation ist aber leider ohne Alternative, da sich auch das Verhalten der Patienten und Patientinnen den behandelnden Zahnärzten gegenüber deutlich verändert hat. Deshalb ist es ratsam, sich für die Aufklärung ausreichend Zeit zu nehmen und für alle Fälle gut dokumentiert zu sein, obwohl die weit überwiegende Zahl der Patienten (ich verzichte im Sinne der Lesbarkeit des Textes bewusst auf das „Gendern“ ) einen respektvollen Umgang pflegt und ihnen daher auch entsprechend begegnet wird. Aber es gibt eben auch die „schwierigeren“ Patienten, die grundsätzlich alles hinterfragen, und die sind seit der Corona-Pandemie nicht weniger geworden. Das Anspruchsdenken ist zweifellos nicht kleiner geworden, natürlich auch von Politikern gewollt, selbstverständlich ohne darüber nachzudenken, wo die personellen und finanziellen Ressourcen für die Umsetzung der geweckten Begehrlichkeiten herkommen sollten. Als „pars pro toto“ möchte ich hier auf die Behandlung von Kindern eingehen. Es ist heute allen Eltern zumutbar, auf die Zahnpflege der Kinder zu achten und für eine entsprechende Ernährung zu sorgen. Die dafür notwendigen Informationen sind in ausreichender Form vorhanden und leicht zugänglich. Kindergarten und Elementarunterricht leisten zusätzlich wesentliche Basisarbeit in der Hinsicht. Aber wenn den Kindern ständig Süßigkeiten gekauft wird oder dem p.t. Kind von Verfechtern antiautoritärer Erziehung nicht zugemutet werden kann, die Zähne regelmäßig und ordentlich zu putzen, ist selbstverständlich der behandelnde Zahnarzt schuld am devastierten Gebiss. Die Allgemeinheit in Form der Sozialversicherten-Gemeinschaft darf dann die Narkosebehandlung in einem Krankenhaus finanzieren. Dort ist man mit der Situation konfrontiert, dass letzten Endes fast die Hälfte der eingeteilten Kinder – aus welchen Gründen auch immer – nicht zu dem vereinbarten OP-Termin erscheint. Andererseits wird es immer schwieriger, diese Eingriffe in den Krankenhäusern durchzuführen. OP-Säle, Anästhesisten und das betreuende OP-Personal stehen nicht unbegrenzt zur Verfügung. Besonders ärgerlich für alle Beteiligten ist aber, dass es politisch nicht opportun scheint, dieses offensichtliche Fehlverhalten entsprechend zu sanktionieren oder auch nur in der Öffentlichkeit anzusprechen, wenn wieder einmal die Diskussion über scheinbar zu lange Wartezeiten für Narkosebehandlungen unter Ausklammerung der häufigsten Ursachen dafür in den Medien aufkommt. In diesem Zusammenhang will ich nicht verschweigen, dass das Spektrum von Seiten der Patienten wesentlich diverser geworden ist und von sehr gesundheitsbewussten, entsprechend informierten und engagierten Personen bis zu ziemlich indifferenten Mitbürgern reicht, die ihre Gesundheit und die Verantwortung dafür gerne an Dritte delegieren, auf nichts verzichten wollen und selbstverständlich dann für durch diese Einstellung bedingte Schäden andere verantwortlich machen. Ein ständiger Diskussionspunkt in den vergangenen Jahren waren die Honorare. Und das in verschiedener Hinsicht. Dass der Kassenvertrag aus dem Jahr 1957 überarbeitet gehört, steht wohl außer Zweifel. Der Umstand, dass sehr viel Geld in die Weiterentwicklung der Zahnmedizin investiert wurde und immer noch wird, hat eine Fülle an neuen Behandlungsmethoden und eine dramatische Erweiterung des Behandlungsspektrums induziert. Allerdings haben diese Innovationen eben ihren Preis, die Forschungs- und Entwicklungskosten wollen verdient werden, die Weiterbildung des gesamten zahnärztlichen Personals ist ein ständiges Thema, der Rahmen an gesetzlichen Vorschriften und arbeitsrechtlichen Vorgaben wird immer herausfordernder und der Mangel an qualifiziertem Personal führt dazu, dass auch die Kosten dafür stetig nur eine Richtung kennen, nämlich deutlich nach oben. Bei der Eröffnung der ersten Praxis im Jahre 1984 waren drei Stellen ausgeschrieben, eingegangen waren darauf 45 Bewerbungen. In den letzten Jahren gab es für ausgeschriebene Stellen entweder keine, singuläre oder wenig Erfolg versprechende Bewerbungen. Auch die Steuersituation hat sich über die Jahre deutlich verschlechtert. War am Anfang noch eine 10% MWSt bei jedem Honorar hinzuzufügen, waren es dann bald 20% und schlussendlich folgte einer EU – Vorgabe entsprechend die unechte Umsatzsteuerbefreiung mit der eher symbolischen, nur auf die Kassenhonorare beschränkten 4,8% MWSt-Ausgleichszahlung, die heute noch aktuell ist. In der Realität bedeutete das eine Investitionsstrafsteuer vor allem unter dem Aspekt, dass der Anteil der Kassenhonorare an den Einnahmen einer zahnärztlichen Praxis stetig zurückgegangen ist. Die immer wieder erfolgten Hinweise an die politischen Parteien auf diese Schieflage sind leider erfolglos geblieben, die Zahnärzteschaft wurde stets als potenzielle Topverdiener bezeichnet. Und so sehen wir uns mit der Situation konfrontiert, dass die Kassenhonorare durch Privathonorare quersubventioniert werden müssen, wenn eine Praxis einen vernünftigen Standard betreffend die Geräte, die personelle Ausstattung und den Grad der Fortbildung der in der Praxis tätigen Mitarbeiter haben sollte. Das betrifft vor allem diejenigen Gegenden Österreichs, die auch ein ambitioniertes Preisniveau in Bezug auf Immobilien, Mieten und Mitarbeitergehälter aufweisen. Zusammengefasst geht die Schere zwischen Kassenhonoraren, dem in den Kassenverträgen umfassten Behandlungsspektrum und der modernen Zahnmedizin, die auch patientenseitig immer stärker nachgefragt wird, immer weiter auseinander. Aber diese Entwicklung ist nicht nur auf die Zahnmedizin beschränkt, sie betrifft sämtliche Bereiche der Medizin, ja des gesamten Gesundheitswesens. Die Bereitstellung der dafür erforderlichen organisatorischen Strukturen, die Rekrutierung motivierten Personals mit der entsprechenden Ausbildung und letzten Endes auch die Finanzierung werden eine große Herausforderung für die Politik der nächsten Jahre darstellen. In Vorarlberg hat man ja auf Grund der Geografie ausreichend Gelegenheit, die Entwicklungen in der D-A-CH Region zu beobachten. In der benachbarten Schweiz werden Kantonsspitäler geschlossen oder zusammengelegt, die Krankenkassenprämien sind heuer wieder deutlich über der Inflationsrate gestiegen (6,5 bis 7% gegenüber 1,5% Inflationsrate) und Gegenstand intensiver politischer Diskussionen. In Deutschland sind die Spitäler in der Vergangenheit weitgehend privatisiert worden; kleinere Krankenhäuser werden oder sind ebenfalls geschlossen und die Praxisketten privater Investoren dafür im Vormarsch. Mit den entsprechenden Konsequenzen für die flächendeckende Versorgung der Bevölkerung trotz eingehender Warnungen durch die Standesvertretungen der Ärzte und Zahnärzte. Die Konzentration auf Gunstlagen und die Ausdünnung der Versorgung im ländlichen Raum kann noch nicht überall wahrgenommen werden. Unter Berücksichtigung der Erfahrungen der Nachbarländer wird es spannend, wie die vielen Versprechen der Vorwahlzeit in die Realität umgesetzt werden können.

MR Dr. Gerhard Bachmann, Feldkirch

MR Dr. Gerhard Bachmann